Moraltheologin Kerstin Schlögl-Flierl im Interview

Zwischen Naturrecht und Gewissen: Ethik im Angesicht der Ökumene

Veröffentlicht am 08.12.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Augsburg ‐ Sterbehilfe, Abtreibung und weitere ethische Themen bergen Konfliktpotenzial für die Ökumene, denn Katholiken und Protestanten vertreten hier unterschiedliche Ansichten. Warum trotzdem meist Einigkeit zwischen den Konfessionen herrscht, erklärt Moraltheologin Kerstin Schlögl-Flierl im katholisch.de-Interview.

  • Teilen:

In den vergangenen Monaten hat der evangelische Landesbischof Ralf Meister mit seiner Forderung nach einem Recht auf einen selbstbestimmten Tod bei der katholischen Kirche große Irritationen hervorgerufen. Dies ist nur ein Beispiel für ethische Themen, bei denen die beiden mitgliederstärksten Kirchen in Deutschland verschiedene Meinungen vertreten. Doch woher rühren diese Unterschiede? Die Moraltheologin Kerstin Schlögl-Flierl von der Universität Augsburg erklärt es.

Frage: Frau Schlögl-Flierl, wir wollen das Thema Sterbehilfe etwas grundsätzlicher angehen. Woran liegt es, dass Protestanten und Katholiken eine unterschiedliche Sicht auf dieses und weitere moraltheologische Themen haben?

Schlögl-Flierl: In der Vergangenheit wurde oft von unterschiedlichen Ansätzen in der Ethik gesprochen: Eine größere Orientierung am Naturrecht im katholischen Bereich und am Gewissen im evangelischen Bereich. Aber derart schematisch kann man die konfessionellen ethischen Unterschiede nicht mehr fassen. Ich nehme eine große Vielfalt im katholischen und evangelischen, aber auch im orthodoxen Bereich wahr. Dabei wird durchaus auch der Schulterschluss mit ganz liberalen Positionen gesucht. Die Trennlinien in der Ethik verlaufen momentan eher politisch, kulturell oder lebensweltlich als konfessionell. Aber ich möchte betonen: In vielen ethischen Fragen herrscht Einigkeit unter den Konfessionen. Das sieht man etwa an der Woche für das Leben, die von evangelischer Kirche und Deutscher Bischofskonferenz gemeinsam getragen wird. Dieses Jahr hätte das Thema Leben im Sterben im Vordergrund gestanden, was nun nächstes Jahr nachgeholt wird. In bestimmten Bereichen, wie etwa beim Menschenbild, wurden in den vergangenen Jahren von Lutheranern und Katholiken sogar Dokumente veröffentlicht, die die gemeinsamen Sichtweisen betonen.

Frage: Sind diese eher traditionellen Orientierungen der katholischen Theologie am Naturrecht, also an universell geltenden Prinzipien, und der evangelischen Theologie am Gewissen auch heute noch bedeutsam?

Schlögl-Flierl: Diese Grundlinien ziehen sich bis in unsere Zeit durch und wirken nach. In der Debatte um das Gewissen, und damit auch die Frage nach dem Individuum, lässt sich feststellen, dass der katholisch-lehramtliche Diskurs in der jüngeren Vergangenheit sehr unterschiedlich verlaufen ist: von einer Konzentration des Gewissens auf die Anwendung der Norm bei Papst Johannes Paul II. hin zu einer Neufokussierung auf das Individuum unter dem Gesichtspunkt der Unterscheidung der Geister bei Franziskus. Die Auseinandersetzung mit dem Gewissen in der evangelischen Tradition ist viel beständiger. Meiner Ansicht nach ist nicht so sehr der Fokus auf das Individuum für ethische Probleme per se derart bedeutsam, sondern eher die voranschreitende Individualisierung. Das zeigt sich etwa drin, dass bioethische Entscheidungen auf den Einzelnen fast schon abgewälzt werden, bevor überhaupt sozialere gesellschaftliche Lösungen gesucht werden. Die Fokussierung auf das Individuum kann also sehr problematisch sein.

Frage: Das Naturrecht ist ein Konzept, das theologisch, aber auch philosophisch durchaus in der Kritik steht. Tut die Kirche gut daran, weiterhin am Naturrecht festzuhalten?

Schlögl-Flierl: Die naturrechtliche Linie zieht sich bei allen ethischen Debatten bis heute durch. Man muss sich jedoch fragen, von welchem Naturrecht jeweils gesprochen wird. Wenn heute etwa von der Ökologie die Rede ist, steht dabei ein ganz anderes Naturverständnis im Hintergrund als bei anderen Themen. Dabei muss ein naturalistischer Fehlschluss vermieden werden. Wenn wir in die Beziehungsethik, also die kirchliche Sexualmoral schauen, ist dort ein naturrechtliches Argumentationsmodell immer noch stark vertreten. Aber zudem bestehen ebenso personalistische und ein humanwissenschaftlich-hermeneutische Argumentationsmodelle. Es ist immer eben ein Abwägen. Letztendlich geht es um die Frage, für was man die Ethik braucht: Sie soll zum Gelingen des menschlichen Lebens beitragen. Es geht also nicht in erster Linie darum, welchem Argumentationsmodell man anhängt, sondern der Fokus muss der Mensch sein. So spielt das Naturrecht auch eine Rolle bei der Begründung der Menschenrechte.

Frage: Besonders die Fragen am Anfang und am Ende des Lebens stehen oft zur Debatte. Warum gerade diese Themen?

Schlögl-Flierl: Bei diesen Fragen stehen bedeutende Werte im Hintergrund. Es geht dabei um das grundlegende Verständnis von Leben und Lebensschutz: Wird das Leben als heilig angesehen, mit allen Konsequenzen, oder eher als Gabe Gottes? Oft fällt hierbei das Schlagwort Autonomie, doch man muss ganz genau schauen, was genau unter diesem Begriff verstanden wird: Etwa Autarkie, also ein völliges Losgelöst-Sein, oder ist auch ein Beziehungsaspekt bei Autonomie zu denken? Das Wort Autonomie ist zu einem Container-Begriff geworden, sodass man sehr genau sondieren muss. Ich stelle in der ganzen Debatte fest, dass das Freiheits- oder Selbstbestimmungspathos sehr groß ist. Dadurch werden die Fürsorgekonzepte, die dem Christentum inhärent sind, völlig verdeckt. Als Christinnen und Christen sprechen wir eher von verantworteter Freiheit und pochen nicht so sehr auf Selbstbestimmung.

Kerstin Schloegl Flierl im Portrait
Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Kerstin Schlögl-Flierl ist Professorin für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg und seit April Mitglied des Deutschen Ethikrates.

Frage: Gilt das auch ganz konkret für das Thema Sterbehilfe?

Schlögl-Flierl: Bei diesem Thema wird die Selbstbestimmung im gesellschaftlichen Diskurs oft autark, also ganz ohne soziale Bezüge dargestellt. In der katholischen Tradition wird die Beziehungsfähigkeit des Menschen, also der relationale Aspekt, die Beziehung zu den anderen wie zu Gott, hingegen sehr stark gemacht. In diesem Bereich können wir einen starken Beitrag zur Diskussion leisten. Bei der Frage nach Suizidbeihilfe in katholischen Einrichtungen denke ich, dass die Kirche eine Gegenposition zur vorherrschenden Meinung einnehmen muss, damit wenigstens diese Krankenhäuser und Hospize sichere Orte sind, an denen medizinisch assistierter Suizid kein Thema ist. So kann die Gesellschaft zudem sehen, dass man mit diesem Thema auch anders umgehen kann.

Frage: Wird es in diesem Punkt zu einer gemeinsamen Position der Kirchen kommen?

Schlögl-Flierl: Die Positionen der Kirchen haben natürlich ihre Unterschiede, sind aber gar nicht so weit voneinander entfernt, wenn man ins Detail geht: Der Bundesgesundheitsminister hat beide Kirchen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 um eine Stellungnahme zu einer möglichen Neuregelung der Suizidassistenz und eines legislativen Schutzkonzepts gebeten. Beide Stellungnahmen betonen die Suizidprävention und damit verbunden die Förderung eines gesellschaftlichen Klimas, in der im Vordergrund steht, dass Pflegebedürftige so versorgt werden, dass sie nicht um einen medizinisch assistierten Suizid bitten. Die Kirchen sind sowohl im stationären wie im ambulanten Bereich engagiert. Sie erhoffen sich insgesamt weitere Unterstützung von staatlicher Seite für die verschiedenen Formen der Pflege. Wenn ein Patient oder eine Patientin dennoch um ärztliche Beihilfe zum Suizid bittet, sollte nach evangelischer Auffassung der behandelte Arzt nicht standes- oder strafrechtlich belangt werden, wenn er sich an die rechtlichen Vorgaben hält. Allerdings darf es zu einer solchen Beihilfe ebenfalls keine Verpflichtung geben. Die katholische Position hierbei: Sie warnt vor Suizidbeihilfe als einer normalen Dienstleistung und lehnt geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid deshalb weiterhin ab.

Frage: Ist es beim Thema Abtreibung ähnlich?

Schlögl-Flierl: Die Moraltheologie hat hier die Position einer advokatorischen Ethik und muss sich gegen jede Pauschalisierung aussprechen. Es geht bei dieser schwierigen Frage um eine Abwägung zwischen dem Lebensrecht des Kindes und dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter. Überhaupt die Position des Kindes zu vertreten ist ein Anliegen, das ich sehr befürworte. Die katholische Kirche versucht, dem Kind eine Stimme zu verleihen und dem Lebensschutz zu dienen. Sich für die Bewahrung des Lebens einzusetzen bedeutet, immer wieder darauf hinzuweisen, was ein Schwangerschaftsabbruch eigentlich ist: die Beendigung menschlichen Lebens. Das Selbstbestimmungsrecht der Mutter ist auf jeden Fall anzuerkennen, aber es muss auch deutlich gemacht werden, wo die Lebensschutzfrage steht: Sie wird letztlich für das Kind argumentieren und mit ihrem Hilfsangeboten die Eltern unterstützen. Hier die Stimme zu erheben, ist eine Position, bei der die katholische Kirche sehr standhaft ist.

Frage: Sehen Sie es als Problem für die Ökumene, wenn Protestanten und Katholiken in der Ethik unterschiedliche Wege gehen?

Schlögl-Flierl: Ich würde schon sagen, dass es momentan in diesem Bereich sehr knirscht, gerade bei der Frage um die Sterbehilfe. Besonders in bioethischen und beziehungsethischen Themen liegt Konfliktpotenzial. Wir ringen in der Ethik immer um einen differenzierten Konsens, der aber auch seine Grenzen hat. Man muss jeden einzelnen Bereich überprüfen. Beim Thema der Organspende wurde in letzter Zeit eine gemeinsame Linie gefunden.

Frage: Wo liegen diese Grenzen?

Schlögl-Flierl: Beim Thema Suizidbeihilfe haben wir eine sehr klare Position im katholischen Bereich. Daher irritiert es uns natürlich, wenn Landesbischof Meister ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben vertritt. Dabei zeigt sich ein ganz anderes Autonomieverständnis. Aber Knirschen hilft schließlich dabei, die eigene Position zu schärfen und die eigenen Argumente zu reflektieren. Ich denke, das Gemeinsame sollte betont werden, ohne das Trennende zu verschweigen.

Eine Frau wägt zwischen einem Schwangerschaftsabbruch und einem Baby ab
Bild: ©Fotolia.com/mostockfootage

Beim Thema Abtreibung müsse sich die christliche Ethik für das Lebensrecht des ungeborenen Kindes starkmachen, sagt Kerstin Schlögl-Flierl.

Frage: Gibt es die angesprochenen moraltheologischen Differenzen zwischen katholischer und evangelischer Kirche auch im Bereich der Sozialethik?

Schlögl-Flierl: Grundsätzlich sind Fälle des Lebensschutzes umstrittener als sozialethische Fragen. Im Bereich der Sozialethik gibt es viele Gemeinsamkeiten: 2015 startete etwa die ökumenische Sozialinitiative von evangelischer und katholischer Kirche. Etwa die ökologische Gerechtigkeit kann als eine gemeinsame Perspektive ökumenischer Ethik gelten. Schon vor "Fridays for future" gab es bei der Bewahrung der Schöpfung eine gemeinsame Marschrichtung beider Kirchen.

Frage: Aus konservativen Kirchenkreisen müssen sich viele deutsche Bischöfe die Kritik anhören, sie würden dem "Zeitgeist" zu viel Raum geben, auch bei ethischen Themen. Wie fundiert ist diese Kritik?

Schlögl-Flierl: Ich tue mich schwer, mit dem Begriff "Zeitgeist". Man muss hier zwischen einem Erkenntnisfortschritt und dem sogenannten Zeitgeist unterscheiden. Neue Erkenntnisse müssen immer auch ethische Entscheidungen beeinflussen. Sich diesen Erkenntnissen, seien sie biologischer, sozialwissenschaftlicher oder welcher Natur auch immer, zu verschließen, wäre sehr problematisch. Es stellt sich aber schließlich auch die Frage, ob damit das komplette Fundament eingerissen wird, oder ob man versucht, eine mittlere Position zu finden und den Sinn dahinter zu erkennen. Man muss schauen, welcher Wert betroffen ist.

Frage: Sie sind seit April Mitglied des Deutschen Ethikrates. Wie spiegeln sich die angesprochenen Themen und Probleme in Ihrer Arbeit dort wider?

Schlögl-Flierl: Im deutschen Ethikrat sind sehr viele Disziplinen, Positionen und Personen vertreten. Wir diskutieren überaus kontrovers. Das ist richtig und wichtig, denn unsere Arbeit ist ein Dienst an der Gesellschaft, um ethische Themen zu durchdenken. Wir geben Empfehlungen, vor allem im bioethischen Bereich, aber auch bei vielen anderen Themen. Diese Arbeit wird in Zukunft wohl wichtiger werden. Im Ethikrat sitzen neben mir weitere Vertreter mit einer religiösen Perspektive, etwa vom Zentralrat der Juden in Deutschland, eine islamische Theologin und evangelische Kolleginnen. Diese Bandbreite zeigt, dass es ein echtes gemeinsames Ringen um Empfehlungen ist. Konfessionen und Religionen spielen dabei schon eine Rolle, denn sie können für unterschiedliche ethische Konzepte stehen. Aber in erster Linie herrscht eine sehr starke Sachorientierung vor.

Frage: Was nehmen Sie als katholische Moraltheologin aus diesen kontroversen Diskussionen im Ethikrat mit?

Schlögl-Flierl: Vor allem ein Abwägen von Argumenten. Das Hinhören und Aufeinanderhören. Viel Stoff zum Nachdenken. Hier sehe ich meine Brückenfunktion zwischen Kirche und Gesellschaft sowie Wissenschaft in beide Richtungen.

Von Roland Müller