New Yorker Pfarrerin über US-Wahl: Ich erwarte Unruhen
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Miriam Groß ist evangelische Pfarrerin in New York und dort auch als ehrenamtliche Polizeiseelsorgerin tätig. Im Interview beschreibt sie die sehr angespannte Stimmung in den USA vor der Präsidentschaftswahl. Dabei schließt sie auch Unruhen in der Wahlnacht nicht aus.
Frage: Rund 100.000 tägliche Corona-Infektionen - Ausschreitungen - Rassengewalt - Wahlkampf. Wie erleben Sie diese turbulente Zeit in den USA?
Miriam Groß: Es ist eine sehr schwierige und sehr intensive Zeit, die wir hier in Amerika durchleben. Wenn ich den Bogen schlage von März bis jetzt, ist das wirklich atemlos gewesen. Wir sind von einer Eskalation in die nächste gefallen, von Pandemie über Polizeigewalt, die Demonstrationen, die Unruhen, dann immer wieder die Problematik mit dem über uns schwelenden Wahlkampf, der stattfindet und diese wahnsinnig vielen Toten. Von daher sind wir sehr, sehr angespannt. Wir blicken jetzt natürlich auf den Dienstagabend oder Dienstagnacht, was uns das Wahlergebnis vielleicht bringen wird. Diese Anspannung ist natürlich darin begründet, dass wir nicht wissen, wie es letztendlich ausgehen wird und wohin sich das Land entwickeln wird.
Frage: Was bekommen Sie von alldem im Alltag mit?
Groß: Natürlich ist mein Alltag durchdrungen mit all diesen Problemen. Das fängt bei der Pandemie an, die ja auch mein Umfeld betrifft. Da mussten wir zum einen in der Gemeindearbeit unglaublich umstellen, digitalisieren, und die Seelsorge ist viel intensiver geworden. Da sind neue Felder, die sich dadurch öffnen mussten, wie zum Beispiel digitale Trauerfeiern und andere Zugänge, wie man nahe bei den Menschen sein kann, trotz der Pandemie. Dann betreffen uns natürlich auch sehr, sehr direkt die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie. Da sind wir eine von vielen Glaubenseinrichtungen, die davon gebeutelt sind, finanzieller Natur. Weiterhin ein großer Schwerpunkt ist für mich auch meine Tätigkeit als ehrenamtliche Polizeiseelsorgerin. Da bin ich natürlich auch ganz nah bei den Polizistinnen und Polizisten, die dies miterleben, die tätig sein müssen. Und von daher sind es viele, viele Ebenen, die mich als Pfarrerin, die uns als Christen in der Metropolregion New York betreffen.
Frage: Sie leben seit sechs Jahren in den USA, nach Stationen in Japan und Schottland. Was gefällt Ihnen an der Stadt und an dem Land?
Groß: Zum einen bin ich sehr interessiert an Amerika, weil mein Ziehvater selbst US-Amerikaner war und mich in der Faszination dieses Landes angesteckt hat. Von daher war es schon immer mein Wunsch, einmal in Amerika leben zu dürfen. New York selbst fasziniert mich einfach aufgrund dessen Vielfalt. Ich glaube, es gibt keine Stadt und kein Land, das so bunt und vielfältig ist wie New York City. Da kommen ganz viele Kulturen und Nationen zusammen. Das ist das, was ich als bereichernd und wunderbar empfinde. Ich lerne Menschen kennen mit ihren Lebensstationen, die spannend sind, die mich bereichern, die mich auch nachdenklich machen. Und gleichzeitig sind die New Yorker unglaublich resilient und pragmatisch. Das haben wir natürlich an der Pandemie auch gesehen. Daher hält man zusammen, man versucht, sich gegenseitig zu stützen und geht oftmals, wie wir an 9/11 gesehen haben, auch gestärkt aus der Situation hervor. Von daher ist New York einfach sehr, sehr faszinierend.
Frage: Seit 2014 leben sie im Land, sind also mitten in der zweiten Obama-Amtszeit angekommen. Man bekommt den Eindruck, dass sich die Stimmung im Land seitdem um 180 Grad gewendet hat. Wie erleben Sie das?
Groß: Natürlich ist New York - sowohl die Stadt als auch die Region - eine so genannte "liberale Blase". Das heißt, da sind vor allem die Demokraten sehr, sehr stark. Sobald man etwas weiter hinausfährt oder auch in den Süden, in das sogenannte Heartland, geht, da wird man eine ganz andere politische Situation wahrnehmen. Mit dem Wechsel von Obama zu Trump hat sich dieses Land massiv verändert. Vor allen Dingen in diesen Bereichen. Und davon abgesehen ist es so polarisiert, wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben erlebt habe. Da tun sich tiefe Gräben auf. Auch in Familien. Da gibt es Familien von denen ich weiß, die zutiefst zerstritten sind und nicht mehr miteinander sprechen können. Oder die versuchen, Politik so weit wie möglich aus jeglicher Diskussion herauszuhalten. Von daher hat sich das Land insgesamt sehr verändert, ist sehr angespannt und unglaublich gespalten.
Frage: Können Sie verstehen, wo die Spaltung herkommt? Es gibt ja auch Stimmen, die sagen, dass Trump nur ein Symptom des Problems ist und dass die grundlegenden Probleme viel länger da sind, viel tiefer gehen.
Groß: Die Probleme dieses Landes sind tiefer als der gegenwärtige Präsident, und ich kann das nur unterstreichen. Das ist nur ein Symptom für eine tiefer liegende Ursache. Dieses Land muss sich noch viel stärker mit dem sogenannten "systemischen Rassismus" auseinandersetzen und auch mit der Benachteiligung von gewissen Bevölkerungsanteilen. Auch dadurch, dass eine stark kapitalistische Neigung in dem Land vorhanden ist. Das führt dazu, dass es Millionen von Menschen gibt, die keinen gerechten Zugang zu Bildung und zu ökonomischen Chancen haben.
Frage: Das heißt aber auch: Nach der Wahl sind die Probleme nicht von heute auf morgen beseitigt.
Groß: Nein, deswegen habe ich auch darauf hingewiesen: Da geht es um etwas viel Grundsätzlicheres, mit dem sich Amerika auseinandersetzen muss. Und das ist für mich, wenn ich theologisch das auch einbringen darf, die Problematik, dass das "Imago Dei" an dieser Stelle verletzt wurde, sozusagen, dass alle Menschen im Ebenbild Gottes erschaffen sind. Das wird in vielen Bereichen eben nicht gelebt und umgesetzt. Das sehen wir am Rassismus, am Antisemitismus, an der ökonomischen Benachteiligung. Und damit muss sich Amerika auseinandersetzen. Und diese Problematik wird nicht mit einem Amtswechsel sofort verändert werden, sondern das Land befindet sich auf einem Weg des Ringens. Und da hoffe ich natürlich sehr, dass Gerechtigkeit und Frieden an dieser Stelle immer mehr Vorrang gegeben wird. Das ist ja damals schon mitgeschwungen, in der sogenannten Bürgerrechtsbewegung mit Martin Luther King Jr. - und auf diesem Weg befindet sich Amerika.
Frage: Das heißt: Wer bei Obama gesagt hat, mit dem ersten schwarzen Präsidenten gehört Rassismus der Vergangenheit an, der merkt jetzt, dass dem nicht so ist.
Groß: Ja, diese Probleme sind im Endeffekt nochmals sehr deutlich an die Oberfläche gekommen und wurden durch die Vorgänge virulent. Natürlich haben wir einen Präsidenten in Amerika, der sehr, sehr spaltet und sehr schwierige Dinge artikuliert hat. Die dem auch noch Vorschub geleistet haben. Von daher kam jetzt in den letzten Jahren damit das eigentlich nur an die Oberfläche, was sowieso schon seit der Gründung Amerikas vorhanden ist.
Frage: Da könnte man ja eigentlich die Frage stellen, die ja auch hier bei uns in Deutschland oft genug gestellt wird: Weshalb gibts dann trotzdem Leute, die sich hinter Trumps Politik stellen? Weshalb hat er trotzdem noch eine gute Chance wiedergewählt zu werden, wenn von außen betrachtet seine Politik so menschenfeindlich und spaltend wirkt?
Groß: Diese Frage ist sehr, sehr schwer zu beantworten, weil sie natürlich sehr komplex ist. Trump ist natürlich sehr stark unterstützt von der sogenannten christlichen Rechten, die im Endeffekt viele Bereiche durchdrungen hat. Und das hat letztendlich einen großen Ausschlag gegeben für seine Wahl. Da hat er viel für sich gewinnen können. Aber nicht nur. Das ist eine sehr komplexe Frage, die Sie mir da stellen.
Frage: Die Antwort werden wir dann vielleicht Dienstagnacht mit den Wahlergebnissen bekommen. Sie sind evangelische Pfarrerin. Wie blicken Sie eigentlich auf diese Situation mit dem christlichen Blick? Zum Beispiel darauf, dass Präsident Trump sich während der Proteste am Weißen Haus mit der Bibel vor einer Kirche hat fotografieren lassen.
Groß: Diese Tat, auf die sie ansprechen, die hat natürlich ganz, ganz viel Wut und auch Entsetzen bei mir und bei vielen anderen ausgelöst. Denn als evangelische Pfarrerin aus Deutschland muss ich ganz klar unterstreichen, dass sich die Kirche nicht zu einem Instrument machen lässt. Das gilt sowohl für einen Präsidenten, der die Bibel vor einer Kirche als "Photo Op" für sich selbst instrumentalisiert, als auch dort, wo Rassismus und Antisemitismus die Würde des Menschen verletzen. Da müssen wir als Christen, als Kirchen aufstehen im Sinne Jesu Christi und das Gebot der Liebe wirklich ganz deutlich hervorheben. Von daher kann ich da nur sagen: Da sind wir in unserer Christenpflicht gefordert.
Frage: Sie sind zudem auch noch ehrenamtliche Polizeiseelsorgerin in New York. Es gibt ja große Debatten rund um die Polizei in Amerika, rund um die Rassengewalt. Es gibt ja auch zum Beispiel die Forderung von liberaler Seite, die Polizei abzuschaffen. Biden wird aufgefordert, der Polizei die Finanzierung zu streichen. Aus dem deutschen Blick alles schwer nachvollziehbar. Wie erleben Sie die Situation als Polizeiseelsorgerin, die Sie mit den Polizisten direkt zu tun haben?
Groß: Als ehrenamtliche Polizeiseelsorgerin bin ich vor allen Dingen mit meiner örtlichen Polizeistation verwoben und kann aus dieser Sicht heraus auch mal ganz deutlich sagen, dass viele der Polizistinnen und Polizisten dieses Ringen teilen. Da gibt es ganz viele, die dunkle Hautfarbe haben, die selbst vielleicht aus dem "Civil Rights Movement" heraus aktiv waren und sind, die sozusagen auch diesen Aufschrei nach Gerechtigkeit teilen. Das heißt, sie sind Menschen in Uniform, die diesen schweren Dienst tun. Von daher sind auch die in sich selbst teilweise zerrissen und berichten auch davon, wie schwer es für sie ist. Da denke ich zum Beispiel an einen Polizisten mit sehr dunkler Hautfarbe, der mit mir ein Gespräch führte und sagte: Die Menschen spucken mir ins Gesicht, die übersäen mich mit Schimpfwörtern. Dabei sehen sie gar nicht jenseits meiner Uniform, dass ich selbst dunkle Hautfarbe habe und dass ich sie verstehe. Von daher ist es ein sehr facettenreiches Erleben der Polizistinnen und Polizisten. Und davon abgesehen: Biden hat nicht unterstützt, dass die Polizei "defunded" oder sogar abgeschafft wird, sondern er möchte, dass eine Professionalisierung stattfindet im Sinne von professioneller Unterstützung durch Psychologen, durch Sozialarbeiter. Dass da eine Umstrukturierung stattfindet, die schon lange notwendig ist. Und dann ist es ja auch immer von Staat zu Staat sehr unterschiedlich, wie diese polizeilichen Strukturen gestaltet sind. Das heißt, im Staat New York ist es noch einmal anders als an anderer Stelle, auch von der Gesetzgebung her. Von daher ist es ein schwieriges Thema, an dem gearbeitet werden muss, an Rassismus und Antisemitismus, der vorhanden ist. Von New York, von der NYPD, kann ich aber sagen, dass es Anti-Rassismus-Training, Deeskalations-Training gibt. Da versucht die Polizei auch darauf einzugehen und sehr stark, sich zu verändern. Ich war zum Beispiel am Donnerstagabend zu einem "Official Hearing", zu einem Treffen eingeladen, wo Vertreter aus der Öffentlichkeit Verbesserungsvorschläge an die Institutionen weitergeben konnten. Und daran wird jetzt sehr stark gearbeitet, das zu verbessern, und das empfinde ich als gut. Dass diese Probleme angegangen werden und dass versucht wird, dagegen vorzugehen, um seinem Auftrag nachzukommen.
Frage: Also alles zusammengefasst: Amerika muss an vielen Baustellen arbeiten. Nun steht die Wahl an: Was erwarten Sie für den Wahltag und was erwarten Sie danach?
Groß: Für den Wahltag erwarte ich viel, viel Aufregung. Menschen, die angespannt sind. Vielleicht auch, dass sich diese Aufregung entlädt in Demonstrationen, vielleicht auch Unruhen. Deshalb biete ich zum Beispiel am Wahlabend ein Friedensgebet bei uns in der Kirche in Chelsea an, wo Menschen sowohl vor Ort mit im Friedensgebet dabei sein können, als auch digital verbunden. Die Nacht wird sicherlich eine sehr unruhige werden, und ich verbinde das Ganze mit der Hoffnung, dass ein Präsident gewählt wird, der das Land wieder heilt. Das, glaube ich, braucht dieses Land. Heilung und Aufarbeitung der verschiedenen schwierigen Aspekte, die hier mitschwingen.
Frage: Was konkret bringt Ihnen Hoffnung?
Groß: Hoffnung bringt mir mein Glaube, in dem ich tief verwurzelt bin, der in Jesus Christus begründet ist. Und diese Hoffnung trägt mich und viele Christinnen und Christen ebenso, während wir auf dieses Land blicken. Wir sind auch getragen davon, dass wir diesem Land einen Präsidenten wünschen und hoffen, dass auch einer gewählt wird, der die tiefen Wunden heilt und hilft, dass man die verschiedenen schwierigen Aspekte miteinander aufarbeitet und in die Zukunft hinein ein besseres Miteinander bringen wird.