Auch Verhalten früherer Oberhirten Pohlschneider und Hemmerle kritisiert

Gutachten belastet Aachener Altbischof Mussinghoff und Ex-Generalvikar

Veröffentlicht am 12.11.2020 um 12:43 Uhr – Lesedauer: 

Aachen ‐ Das lange erwartete Gutachten über Missbrauch im Bistum Aachen wurde veröffentlicht: Es belastet nicht nur den früheren Bischof Heinrich Mussinghoff und Ex-Generalvikar Manfred von Holtum, sondern auch die verstorbenen Altbischöfe Johannes Pohlschneider und Klaus Hemmerle.

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Ein Gutachten über den Umgang mit Missbrauchsfällen im Bistum Aachen belastet Altbischof Heinrich Mussinghoff (80) und seinen früheren Generalvikar Manfred von Holtum (76). Ihnen und den bereits verstorbenen Bischöfen Johannes Pohlschneider (Amtszeit 1954 bis 1974) und Klaus Hemmerle (1975 bis 1994) sowie dem Generalvikar Karlheinz Collas (1978 bis 1997) attestiert die Münchner Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW) in ihrer am Donnerstag per Videokonferenz präsentierten Untersuchung, bis zum Jahr 2010 mehr am Schutz der Täter orientiert gewesen zu sein als an der Fürsorge für die Opfer.

Aus Sicht der Anwälte gab es eine "unverdiente Milde" gegenüber verdächtigten und verurteilten Geistlichen, die oft wieder in der Seelsorge eingesetzt wurden. Die Akten der Diözese wiesen auffällige Lücken auf; in einem Fall könnte es eine gezielte Säuberung gegeben haben. Dem als charismatisch geltenden Hemmerle attestieren die Gutachter aber, auch Opfer besucht und ihnen die Übernahme von Therapiekosten angeboten zu haben.

Die Diözese hatte das Gutachten im Sommer 2019 in Auftrag gegeben, um etwa Vertuschung von Entscheidungsträgern aufzuklären sowie systemische Fehler herauszufinden. In der Untersuchung, die den Zeitraum von 1965 bis 2019 beleuchtet, geht es laut Kanzlei nicht nur um Rechtsfragen, sondern auch darum, ob das Verhalten dem kirchlichen Selbstverständnis entsprochen habe.

Täter- und Opferzahlen

Laut der Anwälte gab es Übergriffe von 81 Klerikern, darunter zwei Diakone. Von den betroffenen Geistlichen lebten noch 24. Die Zahl der Opfer beläuft sich auf 175, darunter fast drei Viertel männlich.

Das Gutachten schildert 14 Fallbeispiele, darunter den eines Geistlichen, der vor einigen Jahren wegen Missbrauchs verurteilt und laisiert wurde. Er sei schon Anfang der 2000-er Jahre wegen Saunabesuchen mit Ministranten aufgefallen. Nach eigenen Aussagen habe der Geistliche aber keine Sanktionen seitens des von Mussinghoff und von Holtum geleiteten Bistums erfahren. Mussinghoff stand der Diözese von 1995 bis 2015 vor, von Holtum war von 1997 bis 2015 dort Verwaltungschef.

Hotline für Betroffene und Zeugen

Im Zuge der Veröffentlichung des Gutachtens hat das Bistum Aachen eine Hotline für Betroffene und Zeugen von Fällen sexueller Gewalt eingerichtet. Sie ist bis zum 20. November zwischen 8 und 18 Uhr unter (02 41) 45 22 25 erreichbar.

Wastl betonte, es gehe nicht darum, die Geistlichen "an den Pranger" zu stellen. Von Holtum habe eingeräumt, dass bis zur Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der deutschen Kirche im Jahr 2010 niemand auf die Opfer zugegangen sei. Nun sollte er zugeben, dass auch aus heutiger Sicht das damalige Verhalten unangemessen war.

Die Gutachter verwiesen auf systemische Defizite. Das katholische Verständnis des Priesters als besonderer Mittler zu Gott habe dazu geführt, eher die Täter als die Opfer zu schützen. Zudem zeigten Verantwortliche eine "beklemmende Sprachlosigkeit" in Fragen der Sexualität sowie eine fehlende Sachkompetenz in der Personalführung.

Stellungnahme des Anwalts von Mussinghoff

In einer Stellungnahme des Anwalts von Mussinghoff heißt es, dieser habe bereits nach seiner Amtsübernahme klargemacht, wie ernst ihm die Aufklärung der Missbrauchsproblematik sei. Zu den "pauschalen Vorwürfen", er habe sich nicht um die Opfer gekümmert, verweist der Anwalt auf die Möglichkeit, dass Betroffene sich an den Missbrauchsbeauftragten hätten wenden können.

Der amtierende Aachener Bischof Helmut Dieser und sein Generalvikar Andreas Frick nahmen als Gäste an der Videopräsentation teil. Zur Wahrung der Unabhängigkeit der Gutachter wurden sie laut Bistum zuvor nicht über die Untersuchungsinhalte unterrichtet. Sie wollen sich erst später dazu äußern.

Das Erzbistum Köln hatte ein ähnliches Gutachten bei WSW in Auftrag gegeben, die Veröffentlichung aber wegen methodischer Mängel Ende Oktober endgültig abgesagt und einen anderen Rechtsexperten mit der Untersuchung beauftragt. Die Kanzlei WSW selbst bestreitet die Mängel. Im Vorfeld der Veröffentlichung hatten auch Mussinghoff und von Holtum darauf hingewiesen, dass das Gutachten aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht veröffentlicht werden dürfte. (bod/KNA)

12.11., 14:40 Uhr: Ergänzt um weitere Details.

Das vollständige Gutachten

Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker im Bereich des Bistums Aachen im Zeitraum 1965 bis 2019. Verantwortlichkeiten, systemische Ursachen, Konsequenzen und Empfehlungen.