Theologin Rahner attestiert Kirche "Häresie der Vergesslichkeit"
Die Tübinger Theologin Johanna Rahner hat der Amtskirche eine gefährliche "Häresie der Vergesslichkeit" attestiert. Durch eine Zementierung theologischer Traditionen und kirchlicher Strukturen habe sich das Lehramt seit dem 19. Jahrhundert zunehmend von den gesellschaftlichen Realitäten entfernt, schreibt die Dogmatikprofessorin in einem am Donnerstag auf dem Online-Portal "feinschwarz" veröffentlichten Beitrag. Wo die von Pluralität und Demokratie geprägte Lebenswelt der Menschen in der Kirche ein Fremdkörper bleibe, nehme die "Glaubwürdigkeit ihrer Sendung Schaden", so Rahner.
In ihrem Text nahm die Dogmatikerin auf einen Ausdruck von Friedrich Nietzsche Bezug, wonach die Vergesslichen "selig" seien, "denn sie werden auch mit ihren Dummheiten fertig". In der Kirche habe dieser Kampf gegen den eigenen "Erinnerungsballast" jedoch dazu geführt, dass die Vieldeutigkeit der eigenen Geschichte zugunsten einer scheinbar makellos fortschreitenden und unveränderlichen Lehre verdrängt worden sei. In etlichen Bereichen handle es sich dabei nicht um ein zufälliges Vergessen, sondern vielmehr um "absichtsvolles Verdrängen" durch die kirchlichen Verantwortungsträger. Vieles an der kirchlichen Struktur, das "bis heute mit dem Mantel des Gottgewollten und Ewigen umgeben wird, ist das Ergebnis eines historischen Verdrängungsprozesses", schreibt Rahner. Dies habe die fatale Folge, dass einem "zaghaft vorgetragenen 'Wir können auch anders'" in den aktuellen Reformdebatten stets die Behauptung einer "immer eindeutigen, stets gleichbleibenden, und daher zu bewahrenden 'Tradition'" als "katholischer Identitätsmarker" entgegengehalten werde.
Ausgrenzung Andersdenkender mit strukturellen Folgen
Rahner erklärt dieses Muster der theologischen Vereindeutigung als Konsequenz eines inzwischen überholten Offenbarungsverständnisses, das von einer übernatürlichen, dem Lehramt exklusiv zugänglichen göttlichen Wahrheit ausgehe. Demnach sei das unbeirrte Festhalten an der Tradition der Kirche die einzige Garantie, um diese Wahrheit vor Verunreinigungen zu schützen. Jeder "Ansatz von Pluralität im Inneren, jeder Hauch von Veränderung wird nun als Gefährdung dieser 'wahrhaft katholischen' und 'immer gleichen' Identität verstanden", so die Dogmatikprofessorin. Angesichts der "sogenannten 'Zerfallserscheinungen' der zeitgenössischen Gesellschaft" versuchten bestimmte Kirchenkreise deshalb seit Langem "einzig auf Aus- und Abgrenzung Andersdenkender" zu setzen. Diese Ablehnungshaltung sei nicht nur in inhaltlichen Fragen, sondern auch in struktureller Hinsicht wirksam. Besonders verhängnisvolle Konsequenzen für die Kirche bringe das etwa in Bezug auf "strukturelle Macht und institutionellen, d.h. systemischen Machtmissbrauch" mit sich, so Rahner weiter.
Dabei sei die Theologiegeschichte deutlich vielfältiger und ließe weitaus größeren Spielraum zur Interpretation als lehramtliche Darstellungen oft Glauben machen wollten. Laut Rahner bestehe eine der wichtigsten Aufgaben der Theologie deshalb darin, unberücksichtigt gebliebene Argumente in der Dogmengeschichte aufzudecken und so eine "Wiederentdeckung der verdrängten Alternativen als Innovationspool" voranzutreiben. Auch dem "unfehlbaren Glaubenssinn der Gläubigen", der "im 19. Jahrhundert strukturell bewusst kaltgestellt" worden sei, müsse für die dringend notwendige Erneuerung der Kirche wieder mehr "Systemrelevanz" zukommen, forderte die Theologin. Johanna Rahner ist Professorin für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen und seit 2020 Vorsitzende des Katholisch-Theologischen Fakultätentages. (mfi)