Verfassungsrechtler: Kein Unterschied zwischen Liturgie und Theater
Im Vorgehen gegen die weitere Ausbreitung des Coronavirus kritisiert der Regensburger Verfassungsrechtler Thorsten Kingreen, dass Gottesdienste anders behandelt werden als Kultureinrichtungen. Das finde er "schwierig", sagte Kingreen der "Welt" (Mittwoch). "Ich kann keinen Unterschied zum Theater sehen. Bei Theatern könnte man die Personen mithilfe der Eintrittskarten leicht nachverfolgen. Und damit auch Infektionsketten."
Ebenso wie die freie Religionsausübung sei auch das Theater ein Grundrecht. "Das Theater ist durch die Kunstfreiheit in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes genauso geschützt wie die Religionsfreiheit durch Artikel 4. Es gibt keinen Unterschied", betonte Kingreen. Die "Ungleichbehandlung" sei auch deshalb schwer nachzuvollziehen, weil insgesamt viele Kultureinrichtungen im Sommer "ausgefeilte Hygienekonzepte" entwickelt hätten. "Nun wird ihnen gesagt: 'Ist das Kunst? Dann kann das weg.' Das halte ich für gleichheitswidrig und hoffe, dass das die Verwaltungsgerichte genauso sehen werden."
"Große Schwierigkeiten"
Kingreen sagte, er habe "große Schwierigkeiten" damit, wenn das Grundrecht auf freie Religionsausübung höher gewichtet werde als andere Grundrechte, selbst in Corona-Hotspots - "obwohl ich selbst regelmäßig und gerne in die Kirche gehe", so der Verfassungsrechtler. "Das Argument, dass Gottesdienste bevorzugt würden, weil Bayern ein christliches Land ist, finde ich spalterisch." Insgesamt können nach den Worten Kingreens "unter bestimmten Voraussetzungen" Einschränkungen von Grundrechten durchaus gerechtfertigt sein, um die Gesundheitsinfrastruktur zu schützen. "Auch solche, die nun ab Mittwoch in Bayern gelten." Der "Lockdown light" zeichne sich - anders als das Herunterfahren des öffentlichen Lebens im Frühjahr - dadurch aus, dass stärker abgewogen werde.
Aber nicht alle beschlossenen Regeln seien dazu geeignet, dass sich etwas ändere, betonte der Fachmann. So seien etwa die "triftigen Gründe", aus denen man in Regionen mit Ausgangsbeschränkungen das Haus verlassen dürfe, so weit gefasst, dass all das, was bisher erlaubt war, weiterhin erlaubt sei. "Das ist frustrierend, wenn man bedenkt, dass im Sommer der Schutz von Risikogruppen schlicht verschlafen worden ist und man lieber fragwürdige, medial aufgeblasene Massentestungen inszeniert hat." Kingreen forderte: "Man muss den Leuten ehrlich sagen: Wir haben eine schwierige Lage, mit der wir auch noch ein paar Monate leben müssen. Da hilft kein starker Staat, sondern nur die Verantwortung jedes Einzelnen und die Medizin."
Unterdessen plädierte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) für öffentliche Weihnachtsgottesdienste trotz Corona. "Ich bedaure, dass die Kirchentüren im ersten Lockdown so lange geschlossen blieben", sagte sie der Wochenzeitung "Die Zeit" (Donnerstag). Es sollten nicht nur digitale Messen angeboten werden. "Ich wünsche mir stillere und doch festliche Gottesdienste, die sensibel die frohe Botschaft verkünden."
Mit Blick auf den drohenden Lockdown für den Handel erklärte die Ministerin: "Geschlossene Kirchen sind etwas anderes als geschlossene Geschäfte." Auf die Frage, ob sie ein Infektionsrisiko für Gottesdienstbesucher sehe, antwortete Grütters: "So penibel, wie die kirchlichen Sicherheitskonzepte vorbereitet wurden: nein!"
Harte Kritik an Kirche
Die bekennende Katholikin übte harte Kritik an der Rolle ihrer Kirche zu Beginn der Pandemie: "Von meiner katholischen Kirche hätte ich mir doch das klare Angebot gewünscht: Wer Beistand sucht, wird bei uns offene Türen und auch immer einen Geistlichen finden!" Weiter heißt es: "In der Kirche geht es nicht um materielle, sondern um elementare Bedürfnisse." Die Menschen verlangten nach Trost und Hoffnung. Zudem falle Weihnachten in eine Jahreszeit, "in der wir Gottes wärmender Botschaft bedürfen."
Kritik übte die Ministerin auch an verschärften Reiseverboten, wie etwa in Italien. "Bei allem Verständnis für den Infektionsschutz - wir dürfen Weihnachten niemanden daran hindern, die engsten Familienangehörigen aufzusuchen." Das richte nur neue Schäden an. "Ich bin froh, dass wir das in Deutschland noch anders planen."
Zur Gottesdienst-Frage angesichts hoher Coronazahlen hatte sich am Dienstag auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina geäußert. Sie sieht keine Notwendigkeit zu weiteren Einschränkungen von Gottesdiensten. "Die beiden großen Kirchen gehören zu den besonders regelkonformen Institutionen mit Blick auf die Einhaltung der coronabedingten Abstands- und Hygieneauflagen", sagte Akademie-Mitglied Christoph Markschies. Sie hätten meistens vorbildlich gehandelt. "Von daher bestand für die Leopoldina keine Notwendigkeit zu weitergehenden Empfehlungen mit Blick auf die Weihnachtsgottesdienste."
Derweil wird auch in anderen europäischen Ländern um die Weihnachtsgottesdienste gerungen. Polens Bischöfe baten die Regierung, mehr Teilnehmer an Weihnachtsmessen zu erlauben als die aktuellen Corona-Auflagen zulassen. Ihr Vorsitzender Erzbischof Stanislaw Gadecki schlug Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am Dienstag brieflich vor, dass pro Gottesdienstbesucher an Heiligabend deutlich weniger Platz in der Kirche ausreichen solle, nämlich 7 statt 15 Quadratmeter. Weihnachten sei eine besondere Zeit für Christen; daher solle man "alles dafür tun", dass unter Wahrung von Sicherheitsregeln möglichst viele Menschen an der Weihnachtsliturgie teilnehmen könnten. Gadecki kritisierte, dass die nationalkonservative Regierung mit der Gottesdienstbeschränkung einen "gefährlichen Präzedenzfall" geschaffen habe, der schwerwiegende Folgen haben könne. Auf ihn könnten sich künftige Regierungen berufen, "die Religion und Kirche feindlich gegenüberstehen". In Polen sind seit Beginn der Pandemie mehr als 20.000 Menschen mit einer Corona-Infektion gestorben. Laut den Vorschriften darf jeder Haushalt auch an Weihnachten höchstens fünf Gäste empfangen. (tmg/KNA)
9.12., 15:10 Uhr: Ergänzt um Grütters. 16:40 Uhr: Ergänzt um Polen.