Nur "Opium des Volkes"? Karl Marx und die Religion
Die Leipziger Universitätskirche, die Garnisonkirche in Potsdam oder die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau sind nur drei Beispiele für Kirchen, die in sich selbst "sozialistisch" oder "kommunistisch" nennenden Staaten ganz gezielt zerstört wurden. Der Glaube schien im neuen System keinen Platz zu haben. Damit bezog man sich auf die Theoretiker: Schließlich sprach Karl Marx schon von Religion als "Opium des Volkes".
Doch aus Marx einen unterschiedslosen Religionsfeind zu machen, greift zu kurz – genauso, wie ihn als geistige Abrissbirne jedweder Kirchtürme zu titulieren. Eigentlich hat er nicht besonders viel zur Religion gesagt. Der einzige Text, in dem er sich dem Thema dezidiert widmet, ist "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" von 1844 – dort fällt auch das Stichwort Opium. Dieser Text steht am Ende zahlreicher Prägungen, die Marx persönlich wie intellektuell erfahren hat.
Zunächst ein Blick auf das persönliche religiöse Umfeld von Marx: Die Familien seiner beiden Eltern haben bereits zahlreiche Rabbiner hervorgebracht, Marx hat also ein großes jüdisches Erbe im Hintergrund. Doch die religiöse Tradition seiner Familie wird unterbrochen: Sein Vater Heinrich arbeitet als Rechtsanwalt. Die Religion ist so lange kein Problem, wie das heimische Trier unter französischer Herrschaft steht und der Code Civil weitgehende Freiheiten gewährt. Doch dann wechseln nach dem Wiener Kongress (1814-15) die Herrschaftsverhältnisse und die Region kommt zu Preußen. Auf einmal kann Heinrich Marx als Jude nicht mehr als Rechtsanwalt arbeiten. Er sieht sich deshalb gezwungen, zu konvertieren und evangelisch zu werden. Um Karl auch den Besuch höherer Schulen zu ermöglichen (Juden war der Besuch des Gymnasiums verboten), wird auch er im Alter von sechs Jahren 1824 getauft. Erst im Jahr darauf wird auch Karls Mutter evangelisch. Schon im Kindesalter wird Karl also religiös entwurzelt.
Einfluss von Feuerbachs Religionskritik
Als Student kommt er dann mit linken Anhängern des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zusammen. In diesen intellektuellen Kreisen trifft er auf die Religionskritik Ludwig Feuerbachs. Der geht davon aus, dass jeder Mensch bestimmte Anlagen habe, diese aber nicht als solche erkenne. Stattdessen würde auf ein höheres Wesen projiziert: Ist jemand gütig oder wissend, werde daraus dann Barmherzigkeit und Allwissenheit. "Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muss", fasst es Marx zusammen. Angesichts dieses Ansatzes der Religionskritik fragt er sich: Warum projiziert der Mensch seine eigenen Fähigkeiten auf einen Gott? Angesichts des durch Industrialisierung und Landflucht verursachten im Elend lebenden städtischen Proletariats stellt er sich diese Frage insbesondere mit Blick auf die Arbeiter.
Eine Antwort liefert er im Aufsatz von 1844. Für Marx hat Religion zwei Funktionen: Einerseits eine Protestfunktion, denn sie formuliert ein Idealbild der Welt – und tritt so in herausfordernden Gegensatz zur Realität. Andererseits hat sie eine Trostfunktion, weil sie mit erwarteten Belohnungen im Himmelreich Menschen über die Missstände in ihrem Leben hinwegtrösten kann.
Für Marx steht fest: Die Religion trägt zur Bindung des Arbeiters an den Fabrikanten bei, indem sie ihn stets auf das ewige Leben vertröstet und so die eigene Befreiung der Arbeiter behindert. Religion trägt für Marx also zur Unterstützung der bestehenden Verhältnisse bei, von denen die zur Obrigkeit gehörende Geistlichkeit durchaus profitiert. "Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks."
Die Opium-Metapher hat Marx nicht erfunden, sein entfernter Verwandter Heinrich Heine schreibt bereits 1840 in einer Denkschrift gegen Ludwig Börne von der Wirkung einer Religion als "geistiges Opium": "Für Menschen, denen die Erde nichts mehr bietet, ward der Himmel erfunden." Opium ist zur Zeit von Marx in aller Munde: Um China zu schwächen und Zugang zu seinen Märkten zu bekommen, schmuggeln die Briten Opium ins Land und versuchen, viele Menschen davon abhängig zu machen – der Konflikt gipfelt in zwei Opium-Kriege, die China verliert. Neben der betäubenden Wirkung steht Opium im Kontext der Zeit also auch für wirtschaftliche Interessen, Gewalt und Politik. Genau diese politische (und damit kapitalistische) Dimension der Religion ist es auch, die Marx stört. Sein enger Vertrauter Friedrich Engels kann die Folgen dieser Handlangerfunktion im eigenen Umfeld erleben, wie er in den Briefen aus seiner Heimat, dem Wuppertal, berichtet: "Die reichen Fabrikanten aber haben ein weites Gewissen und ein Kind mehr oder weniger verkommen zu lassen, bringt keine Pietistenseele in die Hölle, besonders wenn sie alle Sonntage zweimal in die Kirche geht." Religion konnte also ein Unterdrückungsinstrument für die Armen und ein Mittel der Selbstberuhigung für die Reichen sein.
Von Marx zu Lenin
Wichtig ist hier noch eine Unterscheidung: Marx spricht vom "Opium des Volkes" – die Menschen betrügen sich also mit der Religion gewissermaßen selbst. Erst beim deutlich gewaltbereiteren Lenin wird daraus das "Opium für das Volk", da betäubt also jemand absichtsvoll einen anderen. Es findet hier also eine Verschärfung statt, die bereits unter Lenin zu Schließungen und unter Stalin dann zu zahlreichen Abrissen von Kirchen in Russland (vor allem Moskau) führt – Staaten wie die DDR ziehen später nach.
Doch Karl Marx "tickt" da anders: Zeit seines Lebens geht es ihm um Freiheit und Selbstbestimmung. Er will Religion nicht verbieten – er will, dass sie überflüssig wird, dass sie keine opiumhafte Wirkung mehr entfalten muss: "Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf."
Diese Forderung kann auch von religiösen Menschen vertreten werden. Und genau das geschieht. In Reaktion auf Marx wendet sich die Kirche nach und nach den Arbeitern zu, christliche Gewerkschaften setzten sich für deren Interessen ein. Trotzdem bleibt die obere Leitungsebene der Kirche oft an der Seite der Bürgerlichen, das Konzept der nah an den Werktätigen stehenden Arbeiterpriestern wird in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar verboten. Es gibt bekannte Ausnahmen wie etwa den ersten Essener Bischof Franz Hengsbach, der sich die Bedürfnisse des von der Arbeiterschaft geprägten Ruhrgebietes expressis verbis zu eigen macht.
Theologie in der Nachfolge von Marx
Viel weiter gehen Geistliche in Lateinamerika. Ihre Vertreter – der bekannteste ist sicherlich Oscar Romero – wollen als Kirche den Armen eine Stimme geben gegen Ausbeutung und Entrechtung. Politisch stehen sie zum Teil für eine neue Gesellschaftsordnung mit sichtlich sozialistischen Zügen. Als Marxisten haben sich die die Befreiungstheologen nie gesehen, ganz im Gegenteil plädieren sie für einen Dritten Wegen abseits von liberalem Kapitalismus und Marxismus – Marx' Ideen spielen in ihren Ansatz jedoch hinein. Nicht zuletzt durch Papst Franziskus ist die "Option für die Armen" in den Fokus der kirchlichen Aufmerksamkeit gerückt.
Marx war also mehr als ein Religionsfeind. Er hat die äußerst problematische politische und gesellschaftliche Rolle einer antimodern geprägten Kirche seiner Zeit kritisiert und auf lange Sicht sogar dazu beigetragen, dass die Kirche ihre Haltung zum Teil revidiert hat. Privat scheint Marx zur Religion im Übrigen ein entspanntes Verhältnis gehabt zu haben: Er hatte kein Problem mit gläubigen Menschen und scheint zudem bibelfest gewesen zu sein. So beklagt er die seines Erachtens zum Selbstzweck verkommene Akkumulation von Geld mit den Worten: "Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten."