Bistum Essen: Spätzünder und dennoch Vorreiter
Die Kohle macht’s: Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde aus den ländlichen Räumen um Duisburg, Dortmund, Essen und Bochum ein dicht besiedeltes Netz aus Städten, unterbrochen nur von Fördertürmen. Die ausgeschachtete Erde der Bergwerke wurde anderswo abgeladen und machte aus der ehemals flachen Region ein hügeliges Gebiet. Der "Kohlenpott" kommt in keiner Beschreibung historischer Landschaften vor – für die Menschen dort ist es jedoch trotzdem ein Fixpunkt. Wo immer jemand herkam, die gemeinsame "Maloche" verband alle.
Besonders in kirchlicher Hinsicht blieb die Region um Kumpel und Kohle lange Niemandsland: Von den Bistumsstädten Köln, Münster und Paderborn war die Gegend weit entfernt. Die Priester kamen also stets von weiter weg. Wichtige Lenker mussten lange fahren, um die Menschen dort zu erreichen. Die wandten sich deshalb nach und nach von der Kirche ab. Schon in den 1950er Jahren ging die Religiosität in der Region im Vergleich mit anderen Teilen der drei Bistümer zurück. Deshalb fragte der damalige Münsteraner Bischof Michael Keller beim Papst an, ob man nicht ein neues Bistum gründen solle. "Der Grundimpuls für das Bistum Essen war also ein pastoraler", sagt der Kirchenhistoriker Franziskus Siepmann, der das Buch "Mythos Ruhrbistum" geschrieben hat.
Schnell geht es vor allem um Geld
Dass es vor allem um eine gute Betreuung der Menschen im Ruhrgebiet gehen sollte, trat bei den Verhandlungen für das neue Bistum jedoch bald in den Hintergrund. "Es ging am Ende vor allem darum, wer welche Städte abgibt – und damit auf Kirchensteuereinnahmen verzichtet", sagt Siepmann. Deshalb umfasst das Gebiet des Essener Bistums heute nicht das gesamte Ruhrgebiet: Auf die Stadt Dortmund wollte der Paderborner Erzbischof, Kardinal Lorenz Jaeger, auf keinen Fall verzichten. Auch Teile von Duisburg sowie die Städte Castrop-Rauxel und Wanne-Eickel sind in anderen Diözesen untergebracht.
Ein weiteres Kuriosum: Mit Absicht wurde dem Bistum Essen das märkische, protestantisch geprägte Sauerland zugesprochen, "um einen Rückzugsort für ausgebrannte Großstadtpriester zu haben", weiß Siepmann. Dieser merkwürdige lokale Zuschnitt sorgt bis heute für Probleme: Denn mit dem Begriff "Ruhrbistum" können die Bewohner des Sauerlands – weit entfernt von der Ruhr – denkbar wenig anfangen.
Doch an diesem Punkt hören die Herausforderungen der Diözese nicht auf: Denn schon in seiner Gründungszeit befindet sich das Gebiet des Bistums Essen im Umbruch. Während der Entstehung des Ruhrgebiets hatte es in der Region ein starkes katholisches Milieu gegeben. Denn traditionell war die Region konfessionell sehr durchmischt, durch die Gegenüberstellung zu "den anderen" entstand eine starke Identifikation der Katholiken mit ihrer Kirche.
Das änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Strukturwandel setzte ein, mehrere Universitäten wurden gegründet, die SPD wurde zur treibenden Kraft und das Ruhrgebiet ihre "Herzkammer". Schon zur Gründung 1958 ist im "Ruhrbistum" klar, dass die Zeit der Kohle über kurz oder lang ihrem Ende zugeht. Den anstehenden Wandel hatten die beiden Weltkriege bisher lediglich künstlich verzögert, nun begann das Zechensterben und erschütterte Identität wie Lebensgrundlage der Menschen vor Ort.
Sozialpastoral und neue Kirchen
Darauf reagierte das Bistum auf zweierlei Weise: Einerseits konzentrierte sich die Kirche auf die Industriearbeiter und Bergleute, besonders der erste Essener Bischof Franz Hengsbach fuhr mit den Kumpeln unter Tage und vermittelte in Konflikten zwischen Arbeitern und Unternehmern. Er war als "Anwalt der kleinen Leute" glaubwürdig und auch in kirchenfernen Kreisen geachtet – Helmut Schmidt nannte ihn gar die "wichtigste Person des Ruhrgebietes". Mancher sozialdemokratischer Funktionär bekam fast Angst vor dem CDU-nahen Kirchenmann, der gesellschaftspolitisch eher auf der Seite der Konservativen stand.
Andererseits unterstützte vor allem Hengsbach den Aufbau kleiner Pfarrfamilien. In den ersten zehn Bistumsjahren wurden fast 100 neue Kirchen gebaut, um "jedem Arbeiter seine Kirche neben’s Bett zu setzen", wie es hieß. Dabei war durch interne Studien schon in den 1960er Jahren klar, dass dieses Konzept nicht funktionieren würde. Durch den bereits entstehenden Priestermangel wussten die Bistumsverantwortlichen, dass viele Kirchenneubauten nach der Pensionierung der amtierenden Pfarrer verwaist sein würden.
"Arbeiterbistum ohne Arbeiter"
Wirklich erreicht wurden die Arbeiter durch diese Initiativen allerdings nicht: In den ersten Jahrzehnten waren Sie unter den Kirchenbesuchern klar unterrepräsentiert, zur Messe kamen weiter vor allem die Kleinbürgerlichen. "Es war ein Arbeiterbistum ohne Arbeiter", fasst es Siepmann zusammen. Er führt das vor allem darauf zurück, dass die Gründung der Diözese zu spät kam. "1900 wäre ein passenderer Zeitpunkt gewesen", sagt er. Das "Projekt Ruhrbistum" sieht er trotzdem nicht als gescheitert an. "Ohne das Bistum wäre die Kirchenbindung noch viel geringer." Er beobachtet stattdessen eine erfolgreiche Identifikation der Menschen mit ihrer Diözese.
Mittlerweile hat sich das Bistum Essen zu einer Art Werkstatt für die Kirche der Zukunft in Deutschland entwickelt: Nirgendwo gehen so wenig Menschen in die Kirche und es ist immer zu wenig Geld da. Beides Zustände, an die sich vor allem die traditionell geprägten, finanzstarken Nachbardiözesen erst noch gewöhnen müssen, die in Essen aber schon jetzt Realität sind und sich in Zukunft noch verstärken werden. "Ab Mitte der 2020er Jahre wird es finanziell eng, da können wir nicht mehr weitermachen wie bisher", weiß Siepmann. Deshalb wird im Bistum zu den Gründen für Kirchenaustritte geforscht und werden neue Ansätze für Pfarreien entwickelt. Dazu gehört unter anderem, dass zum Teil ehrenamtliche Teams Gemeinden leiten und die Priester sich auf das Spenden der Sakramente konzentrieren. Außerdem werden auch hier weiter Gemeinden zu größeren Einheiten zusammengelegt und Gebäude aufgegeben. "Das bedeutet schmerzhafte Einschnitte, aber auch Aufbrüche", so Siepmann.
Nicht ein Konzept für alle
Zu den Erfahrungen der Essener in diesem Prozess gehört, dass es nicht das eine Konzept für alle Gemeinden gibt: Manche bürgerlich geprägte Gemeinde schafft es aus eigener Kraft, mit Hilfe von ehrenamtlichen Engagierten den Betrieb aufrecht zu erhalten. In anderen Gemeinden gibt es allerdings dringendere Probleme: Etwa, soziale Angebote zu machen und Menschen in Not zu helfen. "Es gibt da eine große Vielfalt und eine große Ungleichzeitigkeit, die wir aushalten müssen", findet Siepmann. Am Ende komme es schlicht darauf an, Menschen in ihrem Leben und Glauben zu begleiten.
Mit dieser Herangehensweise hat das Bistum Essen Maßstäbe gesetzt, die anderswo bereits übernommen wurden. Die Erzbistümer Freiburg und Köln haben sich etwa in Fragen der Gemeindereform bereits vom Ruhrbistum beraten lassen.
Trotz Startschwierigkeiten hat sich das Bistum Essen heute etabliert und der Zukunft zugewandt. Eine Besonderheit kann ihm sowieso niemand mehr nehmen: Denn das Ruhrbistum ist einer der wenigen umgesetzten Versuche, das Ruhrgebiet überhaupt zu umfassen. Bis heute zerschneiden Landschaftsverbände und Regierungsbezirke die Region – das Ruhrbistum ist in all seiner Unperfektheit ein Konstrukt, um einer gefühlten Region ein kirchliches Zuhause zu geben.