"Fürchte dich nicht": Menschwerdung in der Corona-Pandemie
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"In diesem Jahr ist alles anders. Corona macht mir Angst." So oder ähnlich werden es in diesem Jahr viele formuliert haben – nicht nur Schülerinnen und Schüler. Auch die Adventszeit ist anders. Viele vorweihnachtliche Rituale fehlen in der Schule in diesem Jahr: kein gemeinsames Adventssingen während der Pause im Foyer, kein stimmungsvolles Adventskonzert in der Kirche. Und nun gab es nicht einmal eine gemeinsame, besinnliche Stunde vor den Ferien, weil plötzlich der Lockdown über die Schulen "hereinbrach". Es beschleicht viele ein Gefühl von Verunsicherung und Sorge vor dem, was in der nächsten Zeit noch kommen mag.
In die Situation des vorweihnachtlichen Distanzunterrichts hinein bietet die evangelische Landeskirche Baden einen ungewöhnlichen, digitalen "Schulgottesdienst vor den Weihnachtsferien" an mit dem Thema: "Fürchte dich nicht!". Menschen berichten davon, wie sie mit ihrer Angst umgegangen sind, wie sie diese erlebt und überwunden haben – auch aus der Kraft des Glaubens. "Don't be afraid – it's Christmas" ist der letzte Satz der Akteure. "Fürchte dich nicht!" Diese Botschaft der Engel findet sich vielfach in der Bibel. Sie rahmt auch die Lebens-, Leidens- und Auferstehungserzählungen ein. Die Worte sind wie ein Schlüsselsatz, der zwei zentrale Dimensionen unseres Glaubens bewusst machen kann.
Auf Zuspruch folgt Anspruch
"Mit welchem Ohr hört ihr diesen Satz?" fragte ich meine Schüler. "Ich höre, dass da Zuspruch ist und die Engel den Menschen sagen, dass sie keine Angst haben müssen, weil Gott auf ihrer Seite steht und sie stärkt." Genau! Bereits bei Jesaja heißt es: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein." (Jes 43,1) Deutlich vernimmt man hier den Zuspruchcharakter unseres Glaubens. Andere Schüler hören den Satz mit dem Anspruchsohr: "In dem Satz steckt auch eine Aufforderung. Wenn man weißt, dass man durch Gott gestärkt wird, dann wird man vielleicht auch seine Angst überwinden, aus der Wohlfühlzone heraustreten, z.B. auf einen anderen Menschen zu."
Diese beiden Dimensionen des Glaubens immer wieder deutlich zu machen ist mir ein besonderes Anliegen. Wie ein roter Faden durchziehen sie die biblischen Texte: "Ich bin der Herr dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus", lauten die Worte der Präambel des Dekalogs. Sie verdeutlichen den Zuspruch Gottes, der die Menschen aus der Unfreiheit in die Freiheit hineingeführt hat. Dann folgt der Anspruch: Wenn du die befreiende Kraft Gottes erlebt hast, wirst du selbst als befreiter Mensch leben und handeln. Dann wirst du deine Mutter und deinen Vater ehren, dann wirst du nicht töten. Interessanterweise steht im Hebräischen nämlich nicht ein "du sollst", sondern die Aussage, "du wirst".
Auch die Bergpredigt ist durch den Zuspruch- und Anspruchcharakter geprägt. Auf den Zuspruch in den Seligpreisungen folgt der Anspruch der "Antithesen", die man theologisch passender "Zumutungen" nennen sollte. Auf den Indikativ des Zuspruchs folgt der Imperativ des Anspruchs.
Im Unterricht stelle ich beide Dimensionen in Form des Kreuzes dar: Die Vertikale drückt die Dimension des Zuspruchs Gottes zu den Menschen aus. Der horizontale Balken symbolisiert den Anspruchscharakter des Glaubens, die Dimension des solidarischen Handelns der Menschen untereinander. Beide Dimensionen sind im christlichen Glauben essentiell, keine darf fehlen. Wenn Schüler sich in ihrem weiteren Leben beim Anblick des Kreuzes an diese Botschaft erinnern, haben sie viel verstanden: Religion ist nicht Vertröstung, denn sie fordert uns zum aktiven Einsatz für Gerechtigkeit auf. Religion ist aber auch nicht die Überzeugung, dass wir als Menschen alles selbst erreichen müssen. Der Zuspruchcharakter schützt vor Überforderung und einer Absolutsetzung der menschlichen Leistung. Anspruch und Zuspruch ergänzen sich. Sie prägen auch die Reich Gottes Botschaft Jesu: Das "schon" des Reiches Gottes, an dem Menschen mitwirken sollen, aber auch das "noch nicht", denn der Mensch muss die Vollendung nicht allein bewirken. Das meint der Ausdruck "eschatologischer Vorbehalt".
"Fürchtet euch nicht!" Was für ein kraftgebender Satz für die Weihnachtszeit – besonders in diesem Corona-Jahr: einerseits für die, die des Zuspruchs bedürfen und andererseits für alle, die sich dem Aufruf zum Handeln, zur Solidarität – auch weltweit – stellen. Jesus bezahlte seinen Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden mit dem Leben. Über Jesu Leben und Sterben wurde schon früh erzählt, über seine Geburt aber wusste man nichts. Immer wieder stellen die Schüler überrascht fest, dass sich gerade im ältesten Evangelium des Markus keine Kindheitsgeschichte findet und dass sich die erst später entstandenen Geburtserzählungen der Evangelisten Lukas und Matthäus nicht harmonisieren lassen. "Wer hat denn Recht oder ist alles nur erfunden?" Für viele Schüler sind diese Fragen bohrend. Im Verlauf des Unterrichts erfahren sie, dass es sich bei beiden Geburtserzählungen um christologische Bekenntnistexte handelt, deren tiefe Wahrheit das Bekenntnis zu Jesus, dem Christus, ist.
Jesus Christus, der "heruntergekommene Gott"
Die Weihnachtstexte sind eine Verlängerung des Lebens Jesu nach vorne. Sie sind ein Bekenntnis zu dem, was die Menschen an und durch Jesus von Nazareth erfahren haben. Es sind nachösterliche Texte, die aus dem Glauben entstanden sind. Hier berichten nicht "Außenstehende" über ein Ereignis, sondern "Engagierte" bezeugen ihren Glauben. Diese Umdeutung der Frage nach der Wahrheit ist und bleibt eine Herausforderung – nicht nur für Schüler im Religionsunterricht. Gehen die Lernenden den Weg aber mit und entwickeln ein neues, vertieftes Wahrheitsverständnis, erschließen sich ihnen alle christologischen Bekenntnistexte in einer neuen, gewinnbringenden Dimension. Beim Lesen des Weihnachtsevangeliums nach Lukas wird etwa klar: Schon in der Darstellung der Geburt Jesu wird ein Lebensprogramm entfaltet. Der Geburtsort Jesu in einem Stall und die Botschaft an die Hirten zeigen, auf welcher Seite Jesus steht: auf der Seite der Armen, der Entrechteten, der Asylanten, der Zufluchtsuchenden. Wir begegnen im Kind wie im Mann Jesus einem wahrhaft "heruntergekommenen Gott".
Der frühere Bischof Franz Kamphaus prägte den Satz: "Mach's wie Gott – werde Mensch!" Werde ein Mensch, der sich für diejenigen einsetzt, die Unterstützung, Solidarität benötigen. Wer dem Zuspruch dieses menschgewordenen Gottes vertraut, der wird darin auch den Anspruch zur Nachfolge erkennen. Dann ist das Bild der Krippe mit den Hirten wohlig-zusprechend und herausfordernd zugleich. Mach's wie Gott und setzte dich ein für Gerechtigkeit lokal und global. Werde ein menschlicher Mensch, den der Hunger nach einer besseren Welt wachhält.
Die Misereoraktion für das Jahr 2021 steht unter dem Leitmotiv: Es geht! Anders. Misereor schreibt zu dem Motto: "Was zählt wirklich für ein gutes Leben? Wie können wir eine andere Welt gestalten mit einem neuen Blick füreinander und auf die Schöpfung? Die Corona-Pandemie hat sichtbar gemacht, was möglich ist, wenn Menschen Verantwortung füreinander übernehmen: Aufmerksamkeit und Unterstützung für die Schwächsten, gegenseitige Ermutigung, Bereitschaft zu Verzicht und Einschränkung im Interesse des Gemeinwohls." Verstehen wir die Corona-Erfahrungen als Weckruf?! Wenn wir von den positiven Verhaltensweisen und Einsichten etwas in das "Nach-Corona-Leben" hinüberretten, dann würde sich mehr Weihnachten ereignen als sonst und es wäre das wertvollste Geschenk auf dem Weg zum "menschlichen Menschen". Don't be afraid! Christmas is coming! Mach es wie Gott – werde Mensch!