Warum die Weihnachtsgeschichte trotz Ungenauigkeiten kein Märchen ist
"Stille Nacht, heilige Nacht": Wohl kaum ein anderes Lied hat die Vorstellung von der Geburt Jesu so geprägt wie der Klassiker aus dem Jahr 1818. Romantisierende, gar kitschige Krippendarstellungen tun dazu ihr Übriges. Christen in aller Welt stellen sich den kleinen Jesus vor, wie er in einer Futterkrippe liegt, während Maria und Josef an seiner Seite wachen. Vor der Krippe haben sich Hirten mit ihren Schafen versammelt, drei Könige aus dem Morgenland mit unterschiedlichen Hautfarben kommen dazu, die Jesus Weihrauch, Myrrhe und Gold darbringen. Doch wieviel hat dieses vielfach transportierte Bild von der friedlichen Heiligen Nacht mit der damaligen Realität zu tun?
Die biblischen Texte sind bei der Suche nach dem tatsächlichen historischen Ablauf der Weihnachtsereignisse eher wenig hilfreich, da sie selbst widersprüchlich sind. Während manche Details schon auf dem ersten Blick – oder beim ersten Hören – für Verwunderung sorgen, braucht es bei anderen eine tiefergreifende Untersuchung, um Ungereimtheiten festzustellen. Simone Paganini, Professor für Bibeltheologie an der RWTH Aachen, und seine Frau Claudia, Assistentin am Institut für christliche Philosophie der Universität Innsbruck, fassen in ihrem neuen Buch "Von wegen Heilige Nacht!" den aktuellen Stand der Bibelwissenschaften in Sachen Weihnachtsgeschichte zusammen. Dabei gehen sie, garniert mit einer Prise Humor, bekannten wie eher unbekannten Legenden rund um die Geburt des Erlösers nach, decken manche historische Fehler auf – und liefern gleich die Deutung mit. Denn auch wenn nicht alles, was in den Evangeliumstexten steht, akkurat ist: Dass es so aufgeschrieben wurde, hat seinen Grund.
Jesus "musste" in Betlehem geboren werden
So fangen schon beim Geburtsort Jesu die Paradoxien an. Das Lukas- und Matthäusevangelium – übrigens die einzigen beiden biblischen Texte, die, wenn auch unterschiedlich, von den Umständen des Zur-Welt-Kommens des Heilands berichten – legen diesen nach Betlehem. Die Debatte, ob Jesus tatsächlich dort zur Welt kam, greift auch das Buch auf. Aus historischer Sicht ist Betlehem als Geburtsort nämlich umstritten. Doch die damaligen Zeitgenossen, die mit den jüdischen Schriften vertraut waren, verstanden den Wink. Denn damit Jesus als rechtmäßiger Messias anerkannt wird, "musste" er quasi in der gleichen Stadt wie König David geboren werden, der wie kein anderer für die Glanzzeit Israels stand – eben in Betlehem. Um dies zu unterstreichen, taucht David in den beiden Texten in der Ahnenreihe von Josef, dem Mann Marias, auf. Dadurch lässt sich Jesu Abstammung – zumindest indirekt – auf den "Musterkönig" zurückführen. Für die Juden war nämlich ebenso klar, dass der Retter auch aus dessen Geschlecht stammt.
Aber wie soll eine Familie, die aus Nazareth in Galiläa kommt, ausgerechnet den weiten Weg nach Bethlehem südlich von Jerusalem auf sich nehmen, wenn die Frau ein Kind erwartet? Der Lukas-Evangelist, der diese Reise erwähnt, spricht von einer Volkszählung im Römischen Reich, die Kaiser Augustus anordnet, um einen Überblick über die Anzahl der Steuerzahler zu erhalten. Dazu musste jeder Mann mit seiner Familie in seine Heimatstadt reisen – Josef, der aus dem Hause Davids stammt, mit der schwangeren Maria eben nach Bethlehem.
Dass es eine derartige Volkszählung um die Zeitenwende gegeben hat, erachten Forscher als durchaus wahrscheinlich, erklären die Paganinis. Diese dürfte aber auf den Einflussbereich von Quirinius, dem damaligen Statthalter Syriens, veranlasst worden sein. Hintergrund war wohl die Eingliederung Judäas in die Provinz Syrien. Da diese aber vermutlich erst gemeinsam mit Quirinius' Amtsantritt vollzogen wurde, wird die Volkszählung frühestens auf das Jahr 6 datiert.L aut Lukas- und Matthäusevangelium fiel die Geburt Jesu aber in der Zeit des König Herodes. Dieser starb jedoch wahrscheinlich bereits 4 v. Chr., also zehn Jahre, bevor Quirinius' das Kommando über Judäa erhielt. Somit passen diese Angaben nicht zusammen.
Jesus als wahrer Friedensbringer
Das Ziel des Lukasevangeliums liegt nicht darin, die Geburt Jesu möglichst exakt zu datieren, betonen die Autoren von "Von wegen Heilige Nacht!". Es wolle schlicht zeigen, in welche Welt der Heiland hineingeboren wurde: in eine, in der Rom das Sagen hat, genauer gesagt Kaiser Augustus. Dass er in der Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums erwähnt wird, hat vor allem theologische Bedeutung: Jesus, der Sohn Gottes, wurde geboren, als Augustus Kaiser war. Das Lukasevangelium spielt hier bewusst auf die Führerpersönlichkeit des Augustus und deren Merkmale an. Als die Engel den Hirten die Geburt Jesu verkünden, sprechen sie von dem Neugeborenen als von demjenigen, der Frieden auf Erden bringen wird.
Die Untertanten des Römischen Reichs, die ersten Adressaten dieser Geschichte, hätten diese Anspielung verstanden: Für diesen Frieden zuständig zu sein, beanspruchte nämlich eigentlich Augustus. Die "Pax Augusta", der augustinische Frieden, war das zentrale Element seines innenpolitischen Programms. Augustus verstand sich selbst als derjenige, der ein goldenes Zeitalter, eine Art paradiesischen Zustand, hervorgebracht hatte. Im Osten des Reichs, also auch in der Gegend, in der Jesus zur Welt kam, wurde Augustus sogar als "Retter der Menschheit" und "Friedensfürst" verehrt. Für die Leser des Lukasevangeliums, war hingegen klar, wer der eigentliche Retter und Friedensbringer ist: Jesus. Die in der Erzählung anklingenden Parallelen zwischen ihm und dem Kaiser sind also keineswegs zufällig.
So unterschiedlich das Lukas- und das Matthäusevangelium von der Geburt Jesu auch berichten, sind sie sich neben dem Geburtsort Jesu auch darin einig, dass die Mutter Jesu eine Jungfrau gewesen sein muss. Matthäus sieht diese "Jungfrauengeburt" sogar als Erfüllung einer Weissagung des Propheten Jesaja. Doch hatte dieser weder die Mutter Jesu im Blick noch sprach er von einer Jungfrau, sondern lediglich von einer jungen Frau, die ein Kind gebärt. Die griechische Übersetzung der Hebräischen Bibel, die Septuaginta, übersetzt dieses Wort mit partenos, also Jungfrau. Auch wenn daraus die vage Idee einer gebärenden Jungfrau entstand: Der Glaube an eine Jungfrauengeburt, der zum christlichen Bekenntnis gehört, beruht also streng genommen auf einem Übersetzungsfehler. Dennoch habe sich das Paradoxon von einer Jungfrau, die ein Kind zur Welt bringt, für das Lukas- und Matthäusevangelium angeboten: Durch diese Spannung habe man das Geheimnis von der Göttlichkeit Jesu zum Ausdruck bringen können, so die Paganinis.
Fakten angesichts der Botschaft zweitrangig
Doch trotz all dieser Ungereimtheiten und historischen Ungenauigkeiten ist die Weihnachtsgeschichte alles andere als ein Märchen, betonen Claudia und Simone Paganini. Schon den Autoren der Evangelien ging es nämlich nicht primär um historische Fakten, sondern um die "versteckten Glaubenswahrheiten", die zwischen den Zeilen aufleuchten. Auch heute erinnere Weihnachten an die christliche Kernbotschaft: Gott möchte in der Gestalt dieses Kindes und späteren Mannes unter den Menschen wohnen und ihnen nahe sein. Angesichts dieser Zusage spielten Ort, Datum und weitere Angaben nur eine untergeordnete Rolle.
Dass dieser Jesus gelebt hat, das bestätigen auch außerbiblische Quellen. Seine Botschaft und sein Sterben haben unzählige Menschen in der Geschichte mit Hoffnung und Mut erfüllt. Erzählungen aus seinem Leben, auch von seiner Geburt, seien zunächst mündlich weitergegeben und schließlich aufgeschrieben worden, damit die Erinnerung nicht verblasse – "stilisiert, symbolisch aufgeladen und mit Elementen versehen". Somit bleibt Weihnachten das, was es für Christen immer schon gewesen ist: ein faszinierendes Geheimnis.
Buchtipp
Claudia und Simone Paganini: Von wegen Heilige Nacht! Der große Faktencheck zur Weihnachtsgeschichte. Mit Illustrationen von Esther Lanfermann, Gütersloher Verlagshaus 2020, 160 Seiten, ISBN: 978-3-579-02397-7, 14 Euro.