Strube: Vatikan-Dokumente zu Gender werden in Theologie kaum beachtet
Es braucht eine Abrüstung wenn es um das Thema Gender geht – "gerade in der kirchlichen Hierarchie", sagt Sonja Angelika Strube. Die Theologin beschäftigt sich mit Anti-Gender-Aktivismus und religiösem Fundamentalismus. Im Interview spricht sie darüber, was sich das Verhältnis von Kirche und Gender in den vergangenen Jahren verändert hat – und was sich noch verändern muss.
Frage: Frau Strube, Sie forschen zum Thema Anti-Gender-Aktivismus. Warum hat allein der Begriff "Gender" in der katholischen Kirche so einen schweren Stand?
Strube: Das hat verschiedene Ursachen. Zunächst ist es ein Fachbegriff, den die meisten Menschen nicht sofort verstehen. Er bezeichnet das soziale Geschlecht im Unterschied zum biologischen. Er weist also darauf hin, dass wir in unserem Alltagsdenken vieles als typisch männlich oder weiblich bezeichnen, was eigentlich auf gesellschaftlicher Zuweisung beruht. Ein zweiter Aspekt ist, dass es schon seit geraumer Zeit – sicherlich seit 20 Jahren – Personenkreise gibt, die den Begriff "Gender" und alles, was damit zu tun hat, attackieren und die ihn teilweise auch wissentlich missdeuten und anders definieren. Zum anderen gibt es gerade in kirchlichen Kreisen Milieus, die unbedingt an einem Weltbild festhalten wollen, das nur exakt zwei Geschlechter mit geschlechterspezifischen Rollenaufteilungen kennt.
Frage: Was sind das für Gruppierungen in der Kirche?
Strube: Gruppierungen, die an dieser klaren Aufteilung festhalten wollen, sind konservative Kreise unterschiedlicher Art. Gruppierungen, die den Begriff Gender willentlich mit anderen Inhalten füllen oder ihn verzerrt darstellen, gibt es im Bereich politisch rechts-orientierter Menschen und eben auch rechtskatholischer Kreise, die sowohl religiös tendenziell fundamentalistisch orientiert sind als auch im politischen Spektrum rechts zu verorten sind.
Frage: Sie forschen auch zu religiösem Fundamentalismus. Inwieweit hängt das zusammen?
Strube: Losgelöst vom Thema Gender steckt hinter extrem rechten politischen Einstellungen ebenso wie hinter fundamentalistischen religiösen Stilen meist eine Haltung des Autoritarismus. Vereinfacht ausgedrückt ist das eine Grundeinstellung, bei der sich jemand sehr stark an Normen klammert, alles daransetzt, dass diese Normen strikt eingehalten werden und es nicht ertragen kann, wenn es irgendwelche Ermessensspielräume oder auch Barmherzigkeit gibt. Dementsprechend ist der Ärger groß, wenn andere Menschen sich mehr Spielräume nehmen, situationsbezogen zu handeln.
„Die Kirche befasst sich allerdings längst mit dem Thema Gender, wenn sie beispielsweise seit Jahrtausenden versucht festzuzurren, was Männer und was Frauen dürfen und wie beide Geschlechter aufeinander zu beziehen seien.“
Frage: Und wie sieht das in Hinblick auf das Thema Gender aus?
Strube: Speziell darauf bezogen kommt hinzu, dass es auch christliche Gruppierungen gibt, die manche Verse der Bibel biblizistisch, das heißt wortwörtlich auslegen. Beim Vers "Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie" (Gen 1,27) gibt es in den vergangenen Jahren sehr zu meiner Überraschung auch im katholischen Spektrum und selbst unter hochrangingen Klerikern eine Tendenz, diesen Satz als biologischen Beweis dafür zu nehmen, dass es nur Männer und Frauen gibt und dass es auf keinen Fall irgendwelche Menschen dazwischen geben kann beziehungsweise darf, die nicht ganz klar als Männer oder Frauen identifizierbar sind.
Frage: Diese Bibelstelle ist also kein Verbot an die Theologie, sich mit dem Thema Gender zu beschäftigen?
Strube: Nein. Zu meinen, dieser Vers würde bedeuten, dass es von Gott aus nichts anderes als Männer und Frauen geben kann, ist eine fundamentalistische Lesart, die in der katholischen Kirche keine Tradition hat. Es gibt selbstverständlich viel mehr Interpretationsspielraum.
Die Kirche befasst sich allerdings längst mit dem Thema Gender, wenn sie beispielsweise seit Jahrtausenden versucht festzuzurren, was Männer und was Frauen dürfen und wie beide Geschlechter aufeinander zu beziehen seien. Sie konstruiert also selbst 'soziales Geschlecht', und zwar variierend und in Abhängigkeit von jeweiligen Weltbildern und philosophischen Strömungen. Auf dieser Ebene agiert die Kirche also längst – allerdings in einer problematischen Weise, weil auch hier wieder ein Normengerüst aufgebaut wird, das dann auf die Welt angewandt wird und dem die Menschen dann entsprechen sollen. Ich meine, dass die Perspektive eine andere sein müsste und wir viel mehr auf Gottes Schöpfung und die Vielfalt schauen sollten, die Gott geschaffen hat – inklusive der Unterschiede in sexuellem Begehren oder in der eigenen Identität. Wenn wir von da aus denken, dann wird in der Vielfalt die Würde jedes einzelnen Menschen als Geschöpf und Kind Gottes sichtbar. Aus einer solchen Perspektive verbietet es sich, bestimmte Menschengruppen pauschal als defizitär abzukapseln.
Frage: Inwiefern hat sich das Verhältnis von Kirche und Gender in den vergangenen Jahren verändert?
Strube: Beim Thema Gender gilt das, was generell für andere Reformanliegen in der Kirche auch gilt: Es gab unmittelbar im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre eine gute und breite Diskussion zu vielen Punkten. Nicht so sehr zu Themen wie Homosexualität oder Transidentität, die auch gesellschaftlich erst später diskutiert wurden, aber etwa zur Gleichstellung der Frau. Darauf folgte allerdings eine Periode, in der Reformansätze immer stärker zurückgenommen wurden. Im Grunde erleben wir seit 2013, dass wir theologisch und innerkirchlich wieder an die Diskussionen anknüpfen können, die Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre thematisiert wurden.
Frage: Woran liegt es, dass diese Themen so lange nicht bearbeitet wurden?
Strube: Das liegt sicherlich daran, dass es schon beim Zweiten Vatikanischen Konzil und davor kleine Kreise gab, die die Reformen des Konzils nicht wollten, bei den Abstimmungen über die Konzilsdokumente aber mit überragender Mehrheit überstimmt wurden. Im Laufe der Zeit gewannen reformkritische Strömungen und Personen an Einfluss innerhalb der kirchlichen Hierarchie. Es hat lange Zeit unter den Pontifikaten von Johannes Paul II. und auch Benedikt XVI. offensichtlich sehr wirkungsvolle Bremser gegeben. Diese Kreise haben seit dem Beginn des Pontifikats von Papst Franziskus an Bedeutung und Gewicht verloren.
Frage: 2019 wurde ein offizielles Vatikan-Dokument zur Genderforschung veröffentlicht, in dem die Genderforschung auch mit Ideologie gleichgesetzt wird. Wie nehmen Sie als Theologin solche Dokumente wahr?
Strube: Ich finde das sehr problematisch und traurig, weil dieses Dokument zeigt, dass es von Personen formuliert wurde, die bestimmte Begrifflichkeiten übernommen und mit Literatur und Definitionen gearbeitet haben, die man einfach nur als unwissenschaftlich bezeichnen kann. Es gibt in verschiedenen Ländern aktuell das Phänomen, dass sich parallel zu regulären Sozialwissenschaften und Gender-Studies, die auf universitärer Forschung beruhen, ein Bereich etabliert hat, der sehr stark ideologisch und pseudowissenschaftlich arbeitet und bestimmte Begrifflichkeiten besetzt, von "Gender-Ideologie" spricht und dahinter mitunter sogar eine Weltverschwörung vermutet. Leider gibt es kirchliche Dokumente, die auf diese Schriften zurückgreifen und sich nicht beraten lassen von Leuten, die wirklich in der wissenschaftlichen Gender-Forschung tätig sind.
Frage: Was hat das für Konsequenzen für die Theologie?
Strube: Das bedeutet, dass man diese Dokumente in der Regel in der wissenschaftlichen Theologie nicht großartig beachtet. Wenn von vornherein Begriffe falsch gefüllt werden, wie soll ich in einen konstruktiven Dialog treten mit Menschen, die das so formuliert haben? Da fehlt die gemeinsame Basis, um überhaupt über ein Phänomen und seine theologische Bewertung diskutieren zu können.
Frage: Was muss sich aus Ihrer Sicht im Verhältnis von Kirche und Gender ändern?
Strube: Es braucht in manchen Kreisen – gerade in der kirchlichen Hierarchie – eine Abrüstung. Ich nehme da einen Abwehr-Panzer gegen bestimmte Gedanken wahr, der wenigstens probehalber abgelegt werden müsste, damit man überhaupt mit andersdenkenden Menschen in ein Gespräch treten kann. Ich denke, dafür wäre es wichtig, nicht über Menschen mit bestimmten sexuellen Orientierungen hinweg zu urteilen, sondern mit ihnen ins Gespräch zu kommen und ihnen zuzuhören. Einige Bischöfe haben da schon einen Anfang gemacht.
Zur Person
Sonja Angelika Strube studierte Katholische Theologie, Philosophie und Psychologie in Bonn und Münster. 1999 promovierte sie an der Universität Regensburg zum Themenbereich Feministischer Exegese. Sie habilitierte mit einem interdisziplinären empirischen Forschungsprojekt zu Alltagsbibellektüren. Seit 2010 ist Strube Privatdozentin und seit 2011 forscht sie schwerpunktmäßig zum Schnittfeld zwischen religiösem Fundamentalismus und rechtsextremen Tendenzen in christlichen Milieus sowie zum Anti-Gender-Aktivismus.
Im Wintersemester 2020/2021 hat Strube die Klara-Marie-Faßbinder-Gastprofessorin für Frauen- und Geschlechterforschung des Landes Rheinland-Pfalz inne, die von der Katholischen Hochschule Mainz ausgerichtet wird.