Weniger ist mehr: Fasten in den Weltreligionen
Von außen betrachtet, ist das Grundprinzip immer das gleiche: Religiöse Menschen fasten, um sich auf Gott zu besinnen, das Wesentliche wieder mehr in den Blick zu nehmen und Demut zu üben. Diese Ansicht ist den fünf großen Weltreligionen gemeinsam. Unterschiede tun sich erst auf, wenn man einen Blick auf Funktion und Einbettung des Fastens wirft.
Im Christentum hat das Fasten vorbereitenden Charakter. In der Fastenzeit vor Ostern (und ursprünglich auch im Advent) besinnen sich Christen vor den beiden bedeutendsten Festen ihrer Religion auf das Wesentliche, um das darauffolgende Fest angemessen würdigen zu können. Mit der Oster- und Weihnachtszeit gibt es analog zur Vorbereitung auch eine Zeit der Nachbereitung nach den Festen.
Mit Fasten ist hier gemeint, auf einen bestimmten Teil des Alltagslebens (traditionell ist das der Fleischgenuss, aber auch die Nutzung von Sozialen Netzwerken kann dazugehören) zu verzichten. Es geht also um eine gewisse Auswahl, die die Gläubigen haben – jedenfalls bei Katholiken und Protestanten. In den orthodoxen Kirchen wird strenger gefastet. Dort gibt es eigene Kalender, wann was in den Fastenzeiten erlaubt ist und was nicht. Zurück geht das Fasten auf den in der Bibel überlieferten Aufenthalt Jesu in der Wüste, während dem er 40 Tage und ebenso viele Nächte nichts aß. Auch er tat das zur Vorbereitung, denn danach begann sein öffentliches Wirken.
Bei der Geschichte von Jesus in der Wüste wird klar, dass ein und dasselbe Wort – Fasten – zwei unterschiedliche Dimensionen haben kann: Wenig essen oder gar nichts essen.
Strenger Ramadan mit Festessen am Abend
Im letzteren Sinne wird das Fasten im Islam während des Ramadan gehandhabt. Zwischen 29 und 30 Tage im Jahr verzichten viele Muslime zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang auf Essen, Trinken, Rauchen und Sex. Grund dafür ist hier aber nicht die Vorbereitung, sondern der Anlass selbst. Denn der Ramadan dient der Besinnung auf die Offenbarung des Koran im neunten Monat des muslimischen Mondkalenders. Wegen der Orientierung am Mond liegt der Ramadan jedes (Sonnen-)Jahr etwas anders, er verschiebt sich jedes Jahr um zwei Wochen.
Dass Muslime den ganzen Tag nichts zu sich nehmen, wird nach Sonnenuntergang ausgeglichen: Da kommt die Familie oft mit Verwandten und Freunden zusammen, um gemeinsam das Fastenbrechen zu feiern. Hier wird ein Aspekt klar, der in allen abrahamitischen Religionen eine Rolle spielt: Das Fasten als kollektives Erlebnis. Eine ganze Glaubensgemeinschaft fastet zusammen. In islamischen Ländern steht die Welt im Ramadan oft still. Muslime, die eigentlich nicht besonders religiös sind, werden es im Ramadan im Zuge dieses kollektiven Fastens. Der gemeinschaftliche Charakter zeigt sich auch im großen Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramadan. Übrigens kann dieses Beisammensein skurrile Blüten tragen: Denn da nur abends, dafür aber dann viel gegessen wird, gibt es Muslime, die im Ramadan eher zu- als abnehmen.
24 Stunden ohne im Judentum
Eine besondere Fastenzeit gibt es im Judentum nicht, nur einzelne Fasttage – der bekannteste davon ist das Hauptfest Jom Kippur. Hier wird – wie im Islam – zur Besinnung auf den Anlass gefastet. An Jom Kippur ist das die Versöhnung der Menschen mit Gott. Es gibt Gläubige, die an diesem Tag nicht Auto fahren und sich nicht waschen – der ganze Tag soll nur der Buße gehören. Jom Kippur ist als einziger Fasttag in der Thora belegt, alle anderen kamen später hinzu. Auch hier liegt der Tag immer auf einem anderen Datum, weil ein eigener Kalender verwendet wird. Wie im Islam ist Jom Kippur auch für viele eher religionsferne Juden ein Anlass, vorübergehend mehr an religiösen Ritualen teilzunehmen – schon aus Solidarität den anderen Juden gegenüber.
Soziale Aspekte stehen in den monotheistischen Religionen also individuellen gegenüber, je nach Religion und Wohnort kann die Gewichtung verschieden sein. Da Christen sich ihren Verzicht selbst aussuchen dürfen und das Fasten deutlich weniger kodifiziert ist als im Islam, tritt hier der gemeinschaftliche Aspekt ein bisschen zurück.
Individueller Hinduismus
Viel individueller ist das Fasten etwa im Hinduismus. Festgeschriebene allgemeine Fastenzeiten gibt es dort nicht. Dafür hat die Askese generell eine hohe Bedeutung; Gurus und Mönche üben sie etwa und verzichten zum Teil über einen längeren Zeitraum auf alles nicht Überlebensnotwendige. Je nachdem, an welchen Gurus sie sich orientieren, fasten auch die Gläubigen. Auch die jeweilige Kaste und der Wohnort beeinflussen, ob und wenn ja, wann und wie viel Hindus fasten.
Ähnlich ist es im Buddhismus – auch dort fehlen für alle verbindliche Fastenregeln. Das hängt hier mit dem generell eher individuellen Ansatz des Buddhismus zusammen: Um zur Erleuchtung zu gelangen, muss jeder Einzelne den Weg aus der von Leid geprägten menschlichen Gesellschaft finden. Durch besondere Rituale und das Fasten kann dieser Weg aus dem immerwährenden Kreislauf der Wiedergeburt gelingen. In dieser Form einer Art "Aussteiger-Religion" liegt das Fasten also im Ermessen jedes Einzelnen. Dennoch hat sich etwa mancherorts eingebürgert, zum Fest der Geburt, Erleuchtung und Tod Buddhas zu fasten. Hier wird Fasten eher im christlichen Sinne des teilweisen Verzichts verstanden, denn Buddhisten dürfen sich satt essen. Da die Wege zur Erleuchtung sehr unterschiedlich sind, gibt es auch einige Sonderformen: So gibt es durchaus Menschen, die die Vermeidung von Leid auch auf andere Lebewesen beziehen, also vegetarisch leben. Manche kehren sogar dort, wo sie hingehen, um nicht aus Versehen ein Insekt zu töten. Diese Art von Verzicht üben jedoch nur wenige. Wie im Hinduismus ist auch im Buddhismus das Fasten in der Mönchskultur verankert. Diese essen ab dem Nachmittag generell nichts mehr, nach dem Mittagsessen ist also das Frühstück die nächste Mahlzeit.
Während die monotheistischen Religionen also in ganz unterschiedlicher Weise eine Verbindung des individuellen Fastens und der kollektiven Erfahrung suchen, steht bei den asiatischen Religionen der individuelle Charakter im Vordergrund. Menschen überall auf der Welt tun also mit ganz verschiedenen Hintergründen das gleiche. Wie lässt sich diese Gemeinsamkeit in der Unterschiedlichkeit erklären? William Robertson Smith, der Vater der Religionswissenschaft, befand bereits im 19. Jahrhundert, dass das Ritual stets zuerst da sei – der Mythos, also der erklärende Hintergrund, werde stets nachträglich auf das Ritual gesetzt und könne mit der Zeit auch wechseln.
Die Frage nach dem eigentlichen Sinn des Fastens ist also nur eine von vielen, die gestellt werden können. Denn egal, warum sie es tun: Menschen verzichten, um sich zu besinnen, um zu gedenken und im Geist Kapazitäten für das frei zu machen, was im Alltag sonst untergeht. Bei allen Unterschieden sind religiöse Menschen also vielleicht näher beieinander, als sie selbst es vermuten.