Matthias Sellmann und Thomas Arnold über eine Gotteserfahrung ohne Gott

"Beziehungsberatung" mit Gott: Was uns seine Abwesenheit sagen kann

Veröffentlicht am 25.02.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Debatte

Bochum/Dresden ‐ Für viele Menschen spielt Gott heute keine Rolle mehr im Leben. Hat er sich aus der Welt zurückgezogen? Oder sind die Menschen blind für ihn geworden? Nein, sagen Matthias Sellmann und Thomas Arnold im Gastbeitrag – und sehen in dem Gefühl seiner Abwesenheit eine Chance, ihn neu zu suchen.

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272.771. Was für eine Zahl. Einmal Gelsenkirchen. Leer. Oder einmal Chemnitz. Ausgestorben. 272.771 – das ist die Zahl jener Menschen, die 2019 der katholischen Kirche in Deutschland den Rücken gekehrt haben. 2020 war nicht besser. Nur fehlen hierfür noch die offiziellen Zahlen. Und für dieses Jahr wurden im Rheinland eben erst die Ämter personell aufgestockt, während die Server in die Knie gezwungen wurden. Austritt ist hipp. Eintritt nicht. Zumindest nicht in die Kirche. Jetzt widmen sich dem Thema die Bischöfe einen ganzen Studientag lang und wollen lernen, wie sie zu Zeitgenossen neue Kontakte knüpfen können. Manche wollen überzeugter das Evangelium verkünden. Andere wollen bedingungslose Gastfreundschaft zum neuen Leitwort einer Pastoral machen, die die Gottesbeziehung – also den Glauben – zum Angebot stellt. Zu verschieden die Situation in den Landesteilen, um mit einer Antwort die Lösung zu präsentieren. Zu dramatisch die Situation, als weiter zuzuschauen. Die Bischöfe holen im Jahr 2021 nach, was vielleicht schon 2011 dran gewesen wäre. Weil ein Trend sichtbar wird, der kürzlich noch für 2060 prognostiziert wurde und schon deutlich eher Realität zu werden scheint.

Es gibt äußere Veränderungen dafür: Für viele hat Gott keine Relevanz mehr, wenn sie nach Antworten nach dem Woher und Wohin suchen. Die naturwissenschaftlichen und technischen Erkenntnisschübe machen uns selbst immer mehr zu Schöpfern der Welt. Dies ist eine wichtige kulturelle Entwicklung, was auch Zeitgenossen ohne ausdrückliche religiöse Entscheidung spüren. Niemand wüsste dies besser als die Menschen im Osten der Republik. Sowohl die neue Generalsekretärin als auch die Bischöfe hätten direkt vor Ort erleben, vielleicht sogar lernen, können, was es bedeutet, in der Diaspora mit jenen zu leben, denen ein aktives oder passives Gottesleben völlig egal ist. Es sind keine Außerirdischen. Sondern Menschen, die leiden und hoffen, sich freuen und trauern wie auch andere Menschen. Scheinbar lässt sich ohne Gott gut und anständig leben. Es verbietet sich, diese Menschen als schlechter zu disqualifizieren. Wer es ernst meint mit dem Gespräch mit Religionslosen, begegnet ihnen respektvoll und wertschätzend. Bedingungslose Gastfreundschaft beginnt nicht damit, die Türen weit zu öffnen, um andere hineinzulassen. Sondern sie weit zu öffnen, um selbst hinaus zu gehen und sich in die Wohnzimmer, das Herz, der anderen einladen zu lassen. Papst Franziskus würde es mit einem Imperativ formulieren: Lasst uns nicht mit unseren Gottesvorstellungen in die Herzen der anderen trampeln, sondern stets transparent sensibel ein Gefühl dafür entwickeln, was jene denken, die ihr Leben völlig ohne jede Gottesbegegnung gestalten. Das ist für das Christentum eine neue Situation, das bisher zu keinem Zeitpunkt die Auseinandersetzung mit einer solchen Kultur in seiner 2.000-jährigen Geschichte gewohnt war. Es verschiebt selbst für jene, die heute aktiv mit Gott leben, die Vorzeichen dieser Beziehung. Es ist heute anders, mit Gott zu leben als noch vor wenigen Jahrzehnten.

Bild: ©ZAP/Martin Steffen

Matthias Sellmann ist Leiter des Zentrums für angewandte Pastoralforschung (ZAP) und Inhaber des Lehrstuhls für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum.

So richtig der Synodale Weg ist, um rasch strukturelle Defizite abzustellen, werden Christen deswegen nicht umhinkommen, sich in der entwickelnden Kirchen- und religionsfreien Umgebung zurechtzufinden. Schon vor dem Jahr 2060. Ohne Hilfe wird es dabei nicht gehen. Es wird künftig eine Art "Gottesbeziehungsberater" brauchen, um eine neue Sensibilität für das Miteinander in der Gottesferne auszubilden. Gemeint sind Menschen aus dem Volk Gottes, die in unerhört klarer Weise diese inneren Stimmen der göttlichen Präsenz hören und ihnen in unerhört konsequenter Weise auch gehorchen. Im kollektiven Gedächtnis als Heilige bezeichnet, sind sie Seismografen für die Art und Weise, wie Gott sich die Beziehung zu Menschen wünscht. Es gibt solche "Vorposten des Morgen". Sie reagieren sensibler als die meisten auf verborgene Signale. Sie registrieren schon heute, wie und wohin sich unsere kulturelle Tektonik verschiebt. Sie spüren, dass etwas kommen wird, und vielleicht wird es ein Beben sein, ein Wechsel des Gewohnten. Und sie mahnen, sich dementsprechend zu wappnen. Ihre Tragik liegt in ihrem Vermögen, schon in einer Zukunft zu leben, die für die Vielen erst noch kommen wird und die daher jetzt weder dem Seher noch den Normalen eine Heimat bieten kann.

Wer wissen will, was morgen unser Gottesverhältnis prägen wird, die Art und Weise, wie er sich uns zeigen wird und woraufhin – dann lohnt die Suche nach den Mystikerinnen und Mystiker unserer Zeit. Denn sie sind die Seismografen, die heute schon die Veränderungen der spirituellen Tektonik erspüren; die heute schon mit Gott so leben, wie er es morgen mit den Vielen plant. Sie führen heute bereits eine Beziehung mit Gott in einer Weise, die erst noch kommen wird, und die daher niemandem bereits heute eine Heimat bieten kann. So gehören sie weder dem Gott, den sie ahnen, noch dem, der sich gerade den Vielen zeigt. Ihnen bleibt nur der Platz dazwischen. Und wenn sie zu uns sprechen, geben sie uns Anteil an ihrer Ahnung, ohne dass wir ihnen im Gegenzug dafür einen Platz in unserem Alltag zu geben vermöchten. So, eingeklemmt zwischen dem Gott von morgen und den vielen Welten im Heute, gehen sie durch die Jahre, die ihnen bleiben. Wer Namen verlangt, erwartet das Falsche von dem Beitrag. Stattdessen braucht es eine neue Aufmerksamkeit für die Mystikerinnen und Mystiker unserer Zeit.

Bonhoeffer, Delb, Mutter Teresa, Lubich – oder: Der Rückzug Gottes

Schaut man nun genauer hin, was die Mystikerinnen und Mystiker der Gegenwart sehen, drängt sich ein bestimmter Befund auf: Gott zieht sich offenbar zurück. Er verändert den Modus seiner Anwesenheit so, dass er uns immer abwesender vorkommt. Jedenfalls mit den Augen von gestern und heute wird man ihn morgen nicht mehr erkennen. Oder anders: Ganz offenbar will er, dass wir ihn anders suchen und anderswo finden, als wir es bisher gewohnt sind. Tomas Halik hatte es im letzten Jahr ins Wort gefasst, als er fragte, ob die leeren Kirchen nicht das Zeichen des Kommenden sind. Was wird das Galiläa von morgen sein? Sind wir bereit, Gott bei den Suchenden zu suchen? Also da, wo er mit Abwesenheit glänzt.

Was aber, wenn Gott in der eigenen Beziehung zu ihm zu verschwinden scheint? Viele junge Selige und Heilige umkreisen diese neue, seltsame und auch verstörende seismografische Information. Gotteserfahrung als geistliche Abwesenheitserfahrung ist – vielleicht – das Paradigma, auf das wir als die Vielen zugehen. Einige Beispiele dafür: Chiara Lubich etwa. Oder der Jesuit Alfred Delp. Ebenso Dietrich Bonhoeffer. Als Christ, so könnte man mit Letzterem sagen, verfehlt man Gott je mehr, je mehr man in ihm etwas anderes will, als eben dieses Leben zu bieten hat. Eben weil die Zeit der Religion vorbei ist, die der Innerlichkeit, der Gewissenssicherheit, des großen überwölbenden Daches einer gemeinsamen Gotteserfahrung, eben darum beginnt erst die Zeit des Evangeliums.

Liegt die heutige Gotteserfahrung in seiner Abwesenheit?

Ganz anders Mutter Teresa. Sie gilt im globalen Bildgedächtnis als das kleine Kraftpaket von Frau, stets milde lächelnd, tief fromm und wohltätig. Als 2007 ihre persönlichen Aufzeichnungen, Tagebuchnotizen und Briefe veröffentlicht werden, erlebt die Welt ihrer Anhängerinnen und Anhänger einen Schock. Sichtbar wird, dass Mutter Teresa in den Jahrzehnten nach der Anerkennung ihres Ordens in einer völligen geistlichen Dunkelheit gelebt und gebetet hat. Es beginnt in den Jahren um 1950, dass sie nicht nur keinen Kontakt mehr zu ihrem göttlichen Partner verspürt, sondern sogar seine Abneigung. Viele Zitate können diese innere Verlassenheit belegen, und ohne Übertreibung wird man sagen können, dass die Lektüre dieses Buches verstören kann. Denn was sich eventuell leicht und mit gewissem theologisch-feuilletonistischen Esprit behaupten lässt – dass nämlich die Gotteserfahrung unserer Zeit eventuell die seiner Abwesenheit sein kann – das wird auf diesen Seiten geradezu brutale Realität. Mutter Teresa ringt mit der Gottesabwesenheit. Der Himmel bedeutet ihr nichts mehr. Die Lektüre wird ein schmerzhaftes, fast voyeuristisches Mitgehen mit einem alleingelassenen Menschen, der sich dennoch nie beschwert und sogar diese Dunkelheit in seine Gottesliebe integriert.

Der Direktor der Katholischen Akdamie Dresden, Thomas Arnold.
Bild: ©Privat

Der Theologe Thomas Arnold ist seit 2016 Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen.

Nimmt man die genannten Persönlichkeiten als geistliche Seismografen des 21. Jahrhunderts ernst, steht ein ernster Befund im Raum: Gott macht sich fremder; er verändert von sich her die Beziehung; er mutet zu, die geistlichen und kirchlichen Üblichkeiten zu verändern. Jetzt ändert sich der Erfahrungsmodus: Gott wechselt (vielleicht) nicht von Gestalt in andere Gestalt, sondern von Anwesenheit in Vermissung; von Position in Leerstelle; von Sagbarkeit ins Wort an sich.

Dass er das kann und immer wieder mal macht, ist reich bezeugt. Manche werden verwundert sagen: "Herr, wann haben wir Dich nackt gesehen, durstig, verfolgt – und haben dir geholfen?" (Mt 25). Mit Sicherheit waren die großen Brüche der Christentumsgeschichte wie Völkerwanderung, Reformation, Napoleon, Weltkriege unter anderem immer auch Brüche der geistlichen Zugangswege. Und jetzt diese kopernikanische Wende, wie es Eberhard Tiefensee so treffend formuliert, der Christinnen und Christen in die Gottesabwesenheit stellt und eine Ökumene der Dritten Art fordert.

Man muss dies alles sehr vorsichtig formulieren; denn die Vollerfahrung der glaubenden Vielen steht noch aus. Die Erfahrung der nichtglaubenden Vielen weist aber schon darauf hin, dass kulturelle Parameter sich verändern. Es wird post-christlich, mehr und mehr. Ostdeutschland macht es vor. Diese Millionen von Menschen, die selbst beim besten biografischen Willen auf keinen Gott stoßen, können ja keine neutrale Zone für eine inkarnatorische Theologie sein.

Verborgenheit Gottes: nicht Liebesentzug, sondern Aufruf zur Suche

Zugleich stellt der veränderte Erfahrungsmodus auch sicher Geglaubtes in Frage: Gerade, dass sich die Kirche weltweit als eine machtmissbrauchende Organisation erweist, die nicht am Rand, sondern an ihrer sakramentalen Wurzel, dem Weiheamt, also nicht trotz, sondern infolge ihrer dogmatisch abgesicherten Strukturen Unheil und Ausschließung produziert – das muss im Zuge des hier vorgestellten Gedankens mindestens daraufhin geprüft werden, ob es als geistlich-seismografische Information gelesen werden muss. Es ist ebenso nicht egal, wenn die Sehnsucht nach Gottesbeziehung zum Einfallstor für Missbrauch wird. Körperlich und spirituell. Und die versuchte Aufklärung zum Glaubensärgernis und sogar -hindernis wird.

Einfache Deutungen verbieten sich. Gemeint ist hier nicht, dass Gott die Welt mit Liebesentzug bestraft – etwa, weil sie ungläubig sei, machtmissbrauchend, kapitalistisch. Gemeint ist auch nicht, dass die Corona-Pandemie ein solches geistliches seismografisches Zeichen sei. Es wäre die Verzweckung des Malums. Die Spur geht eher dahin, dass Gott klarer zeigt, wie wenig er sich eindeutig verrechnen lässt – weder skeptizistisch noch theologisch oder lehramtlich. Wie ernst er damit macht, dass viele Wege zu ihm führen. Dass er sich eine Christenheit als Beziehungspartnerin wünscht, die ihn nicht vorranging wegen der Spendung metaphysischer Sicherheit sucht. Dass er von einer Kirche neu aufgefunden werden will, die nicht zum Himmel schaut (Apg 1,10), sondern die ihr Himmelswissen mit all denen erst erarbeiten will, welche ihre Lebensleistung zur Ressource horizontaler Weltbewährung einbringen wollen. Dass er geistliche Menschen in die Reife bringen will, erst dann Trost von ihrem Gott zu finden, wenn sie riskieren, anderen notfalls auch ohne Gott Trost zu geben. 

Es wird Zeit, dass sich darüber Gottesglaubende, Sympathisanten und Gottesferne vergewissern. Und neu über ein geistliches Leben auf der Höhe der Herausforderungen diskutieren. Dresden – online auf den Bildschirmen in ganz Europa – wird dafür nur der Anfang sein. Denn wenn es seismografisch stimmt, dass Gott dabei ist, sich zu verfremden, sich unerkennbarer macht, in die Abwesenheit geht, dann ist Säkularität keine Großschadenslage der Religionsgeschichte, sondern der neue Weltraum, in dem es Gott neu zu suchen gilt. Dann muss Kirche sich vor allem angesichts säkularer Errungenschaften bewähren. Dann wird die Frage nach dem "Was und wie, wenn ohne Gott" zur neuen Gotteserfahrung.

Von Matthias Sellmann und Thomas Arnold

Veranstaltungshinweis

Am 26. und 27. Februar veranstaltet die Katholische Akademie Dresden einen Online-Kongress zum Thema "Was und wie, wenn ohne Gott?" bei dem "Gottesglaubende, Sympathisanten und Gottesferne" über ein geistliches Leben jenseits der Gottesgewissheit diskutieren.