Pastoraltheologe: Kirche muss im Digitalen professioneller werden
Ostern 2020 fand völlig ohne Präsenzgottesdienste statt, an Weihnachten fielen viele große Lösungen aus – und jetzt ist bald wieder Ostern. Matthias Sellmann ist Pastoraltheologe an der Ruhr-Universität in Bochum und Direktor des Zentrums für angewandte Pastoralforschung. Er spricht im Interview von verpassten Chancen und einer neuen Form von Spiritualität.
Frage: Was macht die Pandemie mit Ihnen? Welches Gefühl haben Sie jetzt bei den Lockerungsschritten der Maßnahmen seit letzter Woche?
Sellmann: Die Pandemie macht mit mir, um mal etwas Lustiges oder Skurriles zu sagen, dass ich mich dauernd selber sehe. Das ist mir neulich mal aufgefallen. Weil ich jetzt von meinem Beruf her digitale Semester und digitale Gremiensitzungen und digitale Vorträge und so was zu halten habe und das über Zoom mache, sehe ich mich dauernd selber sprechen. Das ist eine ganz eigentümliche Sache, die mir nicht so besonders gefällt. Das hat ehrlich gesagt ziemlich lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass man das auch ausschalten kann. Aber das macht man normalerweise ja nicht, sich beim Sprechen selber anzugucken.
Das ist für mich wie ein Symbol geworden, dass ich durch die Pandemie sehr stark auf mich selber zurückgeworfen werde, auf kleine Radien, auf wenig Mobilität, auf sehr viel Einsamkeit und alleine sein, alleine arbeiten. Und damit bin ich auch noch nicht fertig.
Frage: Einer der Nebeneffekte, die die Pandemie mit sich bringt. Jetzt sagen Sie schon, Sie lehren digital, also auf Abstand. Ist das anders? Was macht das mit Ihrer Forschung und auch mit Ihrem Professorendasein?
Sellmann: Ja, das macht viel aus. Also wenn ich nicht schon mal wusste, dass Bildung was mit Interaktion zu tun hat, also mit diesem gemeinsamen berühmten Funken, der zündet, dann weiß ich es jetzt, weil es mir wirklich fehlt. Man kann natürlich Informationen weitergeben, man kann auch Interaktion über Zoom haben und man kann auch tatsächlich digitale Semester machen. Aber dieser Punkt, weswegen ich eigentlich Professor geworden bin oder weswegen ich Uni liebe, das ist eben dieser berühmte Punkt, an dem man zusammen was versteht und an dem so eine gemeinsame Inspiration im Raum steht. Und das erlebe ich doch eher selten, muss ich sagen.
Ich glaube, dass es auch für die Studierenden echt schwierig ist, gerade für die, die ihr Studium jetzt gerade angefangen haben, weil die häufig auf diesen Punkt verzichten müssen, an dem dieser berühmte Funken im Raum ist und man gemeinsam die Stecknadel fallen hört. Das fehlt mir schon.
Ich bin ein großer Fußballfan. Und da ist es ja ähnlich. Man spielt zwar den Ball von links nach rechts, aber wenn die 50.000 bis 70.000 Menschen auf den Rängen fehlen, dann ist das irgendwie wie Rap ohne Mikro. So ist es, glaube ich, dann auch im Bereich von Seelsorge und Gottesdienst. Kirche ohne Leute – da stimmt einfach irgendwas nicht, weil auch Gottesdienst und auch Religion ähnlich wie Bildung oder Seelsorge einfach aus dem berühmten Funken heraus entstehen, der schon darauf angewiesen ist, dass Leute zusammen was machen.
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Frage: Sie sind quasi Experte dafür, wie Kirche sich entwickelt. Wo stehen wir gerade – also in welcher Entwicklungsphase, wenn man so will?
Sellmann: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob wir überhaupt schon so eine erste Phase überwunden haben. Das sage ich auch selbstkritisch. Also, die erste Phase war ja ganz viel Idealismus, ganz viel Aktivität und ganz viel Kreativität im Bereich der Entwicklung von Formaten. Auch der Podcast "Himmelklar" ist ja ein Zeichen dafür. Aber ich frage mich schon, ob wir nicht ein bisschen wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen und eigentlich die ganze Zeit darauf hoffen, dass es bald vorbei ist und deswegen nicht in die zweite Phase kommen, in der man nämlich die erste Phase reflektiert und die Formate verbessert, präzisiert und sich auch auf einen längeren Atem einstellt, mit dem man digitale Glaubenskommunikation betreibt.
Dazu kann ich keine gesicherten Erkenntnisse vorlegen, aber mir scheint, dass wir aus so einer ersten Unschuld heraustreten müssen und jetzt professioneller werden und uns auch mehr auf das konzentrieren müssten, was wir da jetzt digital können und auch digital sollten.
Frage: Das heißt, es bleibt etwas zu tun für die Kirche. Wo sehen Sie denn während der Pandemie den Zusammenhang von Kirche und Medien? Hätte etwas anders laufen müssen?
Sellmann: Ich habe es wirklich sehr bedauert, dass wir zu Weihnachten 2020 nicht mehr liefern konnten. Das meine ich jetzt als Kirchen. Ich weiß, dass was Großes im Hintergrund geplant war, eine richtig große Kampagne. Und ich war dann auch mit Zeuge, wie das zerfleddert und zerbröselt ist und wirklich auch durch Bürokratie und die Langsamkeit des Apparates dann nicht weiterging. Das habe ich sehr bedauert und da hatte ich wirklich den Eindruck, ich sag das auch mal scharf, dass wir unserer Verpflichtung zu einer Dienstleistung zu den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes nicht nachgekommen sind in der Weise, in der katholische Kirche das gekonnt hätte.
Also diese Kampagnenfähigkeit, auch diese Präzision und auch wirklich auch mal das Überwinden der Lähmungen im eigenen Betrieb, das hätte man zu Weihnachten schon von uns verlangen können. Das könnte man jetzt auch Ostern von uns verlangen. Und da sehe ich nicht, dass es passiert. Wir sind da meiner Meinung nach nicht auf der Höhe. Das finde ich sehr schade. Ich kann das alles verstehen, weil man müsste dazu die gegebenen Routinen verändern, aber ich finde es schon schade. Da wäre auch eine große Chance im Raum für eine Kirche, die sich nicht nur diakonisch hervorragend bewährt, sondern jetzt eben auch mal liturgisch.
Frage: Sie haben von der "Kirche ohne Leute" gesprochen, ähnlich wie im Fußball ohne die Zuschauer. Beziehen Sie sich da auf die Gottesdienste ohne Leute? Weil die Leute ja eigentlich da sind, auch die, die noch glauben.
Sellmann: Ja, die sind da. Das soll jetzt auch gar nicht polemisch klingen, weil natürlich sind auch die Fernsehgottesdienste, auch die Radio- und die YouTube-Initiativen mit Leuten, – alles, was es da gibt, ist ja mit Leuten. Ich wollte es jetzt einfach ein bisschen volkstümlich sagen, weil wir eben normalerweise Interaktion, Anwesenheit, Präsenz gewohnt sind. Das können wir vielleicht auch quasi religionstheoretisch miteinander aufschlüsseln, dass nämlich Religion wirklich von Körpern lebt, die miteinander interagieren. Deswegen, glaube ich, kann sie auf Dauer nicht darauf verzichten. Aber es ist absolut zu loben und absolut begeisternd, was da alles passiert.
Ich will nochmal ganz deutlich sagen, dass wir als Kirchen als ein wichtiges Lernergebnis durch Corona sicher diese unglaubliche diakonische Kraft haben, die die Kirche hat und die ja am Anfang gar nicht so gesehen wurde. Am Anfang waren alle irgendwie enttäuscht, dass die Leute jetzt nicht mehr in die Kirchen kommen. Parallel haben wir die Systemrelevanz unserer Kindertagesstätten, Krankenhäuser, Hospize, Sozialstationen usw. gar nicht in den Blick genommen. Das ist jetzt anders. Wir wissen, Christentum arbeitet mit einer Menge Lungenflügeln – erheblich mehr als nur mit dem liturgischen. Aber Sie hatten ja gerade nach dem Liturgischen gefragt. Da glaube ich, dass wir selbstkritisch sagen müssen, dass man da noch mehr kann im Bereich von Liturgie.
Frage: Kommen wir also auf die anderen "Lungenflügel" zu sprechen. Gemeinschaft, katholische Kirche oder überhaupt das Christentum leben vom Zusammenkommen und dem zusammen Glauben leben. Sie haben bereits selbst gesagt, dass zum Beispiel der Funke überspringen muss oder man dieses Gefühl braucht. Was sind denn Kernkompetenzen, die wir als Christen besonders gut können oder können sollten, die uns jetzt in der Corona-Pandemie helfen?
Sellmann: Das ist für mich tatsächlich auch der eigentliche Lerngewinn, dass ich gemerkt habe: Corona schlägt mir alle möglichen Hilfskrücken meiner Frömmigkeit weg. Ich erlebe weniger Gottesdienste, ich erlebe weniger Leute, die mir ein Vorbild sind, einfach weil ich sie auch betend sehe. Ich erlebe sehr viel Ablenkung und auch andere Möglichkeiten, was man alles so machen kann. Dadurch werde ich herausgefordert. Ich nenne das mal spirituelle Selbstständigkeit. Ich glaube, das ist die große Chance, die wir jetzt als Christinnen und Christen haben. Ich würde es sogar spirituelle Resilienz nennen, also spirituelle Widerstandskraft. Widerstandskraft durch spirituelles Leben, durch spirituelle Übung – das ist das, was Christinnen und Christen jetzt einbringen können in die Kultur.
Wir haben ja in der Kirche ganz tolle Schulen und auch Vorbilder und Modelle, wie man innerlich, also aus inneren Kräften leben kann. Da gibt es ganz fantastische Ideen in den Ordensspiritualitäten. Es gibt ganz großartige Modelle in unseren Exerzitien. Wir haben ganz tolle Literatur dazu. Wir haben ganz wunderbare Rituale, ganz viele Verhaltenstipps. Eigentlich sind Christinnen und Christen Leute, die aus einer starken inneren Kraft leben können – und das vor allem dann, wenn die äußeren Krücken wegfallen. Das ist eine Sache, die ich persönlich jetzt auch entdecke.
Ich merke, dass ich wieder viel mehr persönlich bete, dass ich mir aktiv Orte suche, an denen ich Gott zeige, dass ich ihn verehre, dass ich mit ihm leben will, dass ich auf ihn hören will. Ich merke, dass ich in einer ganz anderen Weise die Bibel lese, dass ich mir die Heiligen vornehme, und mir einfach das, was mir äußerlich jetzt verwehrt ist, trotzdem hole. Das ist für mich persönlich eigentlich mein großer Lerngewinn. Das scheint mir aber auch für Ihre kulturelle Frage das zu sein, was die Christinnen und Christen jetzt wirklich richtig zeigen können könnten.
Frage: Gleichzeitig gibt es die, die sagen: Das kann ich nicht mehr, zumindest nicht mehr innerhalb der Kirche. Die Kirchenaustrittszahlen steigen, aber ja auch nicht erst seit letztem Jahr. Gibt es denn da trotzdem einen Zusammenhang zu der Pandemie oder dem Kirchverhalten in der Pandemie?
Sellmann: Also der Zusammenhang ist natürlich ganz deutlich. Der ist ja fast auch ein bisschen – ich will nicht tragisch sagen – aber es ist schon auffällig, dass wir den Synodalen Weg plus Corona gleichzeitig absolvieren müssen. Der Synodale Weg führt ja eigentlich dazu, dass wir uns treffen und diese wirklich bedrängenden und bestürzenden Probleme der Kirchlichkeit in Deutschland nicht nur besprechen, sondern ausräumen wollen. Dafür ist er ja da. Und jetzt kommt eben gleichzeitig, dass man das unter Corona-Bedingungen machen muss. Deswegen kann das auch wieder leichter zerfasern. Das führt ja auch zu einer Gesamtwahrnehmung der katholischen Kirche durch Leute, die kurz vor dem Kirchenaustritt stehen, dass sie den Eindruck haben, dieser ganze Apparat wankt und stottert und ist unattraktiv und ist vor allem hochgradig irritierend.
Wir haben ja auch zum Beispiel durch die Vorgänge im Erzbistum Köln, aber auch durch andere unglaubliche Irritationen hohe Austrittszahlen, die durch Corona noch einmal verschärft werden, weil die Sichtbarkeit von Kirche und von kirchlichen Dienstleistungen gerade abnimmt, außer im diakonischen Bereich, da nimmt die Sichtbarkeit ja gerade total zu.
Frage: Was wünschen Sie sich konkret vom Synodalen Weg, wenn es denn dann jetzt wieder mit dem Treffen klappt?
Sellmann: Auch unabhängig von Treffen – wir müssen das auch schaffen ohne Treffen – wünsche ich mir: Es muss zu einer veränderten Kirche kommen, vor allem zu einer veränderten Machtordnung innerhalb von Kirche. Daran arbeiten wir ja auch beim Synodalen Weg. Ich sage das mal etwas zugespitzt: Es geht beim Synodalen Weg nicht um Treffen, nicht um Papiere, auch nicht um Reue-Bekenntnisse und auch nicht um Liturgien oder um Selbstverpflichtung. Es geht ausschließlich darum, ob ein Bischof, und das läuft tatsächlich auf die Bischöfe hin zu, in seinem Bistum eine veränderte Kirchenpraxis erlaubt und befürwortet. Nur daran, ob sich wirklich real am kirchlichen Leben was ändert, wird sich entscheiden, ob der Synodale Weg erfolgreich ist oder nicht.
„Nur daran, ob sich wirklich real am kirchlichen Leben was ändert, wird sich entscheiden, ob der Synodale Weg erfolgreich ist oder nicht.“
Frage: Worin sehen Sie die Chance in der nächsten Zeit für die Christen, vielleicht auch die katholische Kirche? Was müsste sich tun?
Sellmann: Ich sehe die Chance in diesem neuen Training, spirituell selbstständig zu werden, nicht davon abhängig zu sein, ob der Nachbar auch zur Kirche geht oder ob in meiner Siedlung die Kirche einen guten Ruf hat oder nicht, sondern wirklich eine Selbstständigkeit, echt erwachsen zu werden im geistlichen Leben. Und dann natürlich, das ist katholisch und evangelisch ja nie abgekoppelt, dadurch auch im gesamten Leben.
Das kann man in die Kultur einbringen, anderen Leuten anbieten, auch als großer Reichtum von Kirche und das parallel mit den sichtbaren und völlig klaren politischen Reformen innerhalb der katholischen Kirche – das würde, glaube ich, für eine neue Glaubwürdigkeit von kirchlichem Leben sehr viel bringen. Parallel zum äußerst sichtbaren diakonischen Einsatz der Christinnen und Christen in den karitativen Einrichtungen – dieser Dreiklang, der täte unserer Kultur gut, glaube ich, und damit auch unserer Kirche.
Frage: Dann hoffen wir, dass die Pandemie da eher ein Beschleuniger ist als eine Bremse, oder?
Sellmann: Absolut. Christinnen und Christen sind ja dadurch ausgezeichnet, dass sie niemals einen Dorn ohne Rose wahrnehmen. Deswegen muss man immer auch aus Problemen Chancen machen. Aus Hindernissen muss man Absprungbretter machen. Das können Christinnen und Christen deswegen, weil sie einem gekreuzigten Gott nachfolgen, der aus dem Kreuz Ostern gemacht hat. Deswegen, glaube ich, kann Corona uns auch nicht den Schneid abkaufen.
Frage: Das klingt schon sehr hoffnungsvoll. Ziehen Sie auch aus Ihrem Glauben die Hoffnung in so einer Zeit?
Sellmann: Ja, das tue ich sehr deutlich. Aber das ist auch Teil meines Glaubens, einfach aus der schönen Ehe, die ich führen darf, aus der Familie, die wir neu miteinander entdeckt haben, auch aus der Nachbarschaft, die sich neu gebildet hat. Und aus der Kreativität meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Also, ich bin umgeben von kreativen, motivierten Leuten. Das hilft mir auch persönlich sehr, dann meinen Teil zu tun, damit die Stimmung nicht abrutscht und damit vor allem unsere Inspiration nicht nachlässt.