Der "Stein des Imperiums": Rom ist eine Stadt aus Travertin
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Stellen wir uns einen Augenblick vor, aus Rom verschwände über Nacht alles, was aus Travertin ist. Da würden wir Augen machen: das Kolosseum – weitgehend weg. Der Petersdom – ohne Außenmauern. Die barocken Kirchenfassaden – verschwunden. Ebenso der Petersplatz und die Piazza del Popolo, mit Ausnahme der jeweiligen Obelisken (beide aus Granit). Die Spanische Treppe, weg. Der Trevibrunnen, der Kapitolplatz. Aber auch sämtliche Bordsteinkanten. Poller. Gesimse. Die Sitzbänkchen, zumindest die besseren – alles weg. Wir beenden den Alptraum und halten fest: Kaum eine Stadt hat bei ihrem Look über 2.000 Jahre hinweg so sehr auf einen einzigen Stein gesetzt wie Rom. Und dieser Stein ist Travertin.
Travertin kommt aus Tivoli, dem antiken Tiburtium, östlich vor den Toren Roms. Er ist ein Kalkstein, etwas porös, hellfarbig in warmen Nuancen von beige bis sand, die je nach Lichteinfall changieren und auch mal rosa aussehen können. Ein mittelschwerer, kompakter und robuster Stein, tritt- und stoßfest, geradezu elastisch, somit tauglich auch für dünne Platten und Verkleidungen. Frost und Hitze tun ihm nichts, er lässt sich gut schneiden, sogar in gerundete Formen, und leicht polieren. Auf Travertin rutscht man selbst bei Regen nicht aus, er kriegt so schnell keine Sprünge, macht sich innen wie außen gut, altert kaum, ist witterungsbeständig und pflegeleicht. Nein, ich will Ihnen diesen Stein nicht als Terrassenbelag verkaufen, aber jedenfalls ahnen Sie jetzt, warum Rom auf Travertin steht. Er ist Materie für alle Fälle und alle Zeiten.
Ganz, ganz früher wurde in Rom mit Vulkanstein gebaut, Tuff zum Beispiel, den man sich aus den sieben Hügeln herausgrub, später auch mit Ziegeln, erst rohen, dann gebrannten. Von den Qualitäten des Steins aus dem etwas weiter entfernten Tiburtium überzeugten sich die Römer erst nach und nach durch Ausprobieren, Warten, Beobachten und Weitersagen. Travertin fing buchstäblich ganz unten an. Bauleiter erkannten bald, dass der Stein aus Tivoli in seinen vielen kleinen Löchern gerne Wasser aufnimmt und es dann für sich behält. Deswegen setzten sie ihn zum Beispiel auf den Kaiserforen gleichsam als Schwammschicht im Fundament ein, damit Wasser nicht nach oben durchsickern und dort Schaden anrichten konnte. Diese und die vielen anderen erfreulichen Eigenschaften des Travertin machten ihn zum Senkrechtstarter unter den Baumaterialien einer ehrgeizigen Stadt.
Baumaterial einer ehrgeizigen Stadt
Er passte rundum ins Konzept. Griffig, stark, widerstandsfähig, so sah sich Rom in der Kaiserzeit. Griffig, stark, widerstandsfähig, zudem fast unbegrenzt verfügbar und per Schiff schnell geliefert: Das ist Travertin. Er wanderte rasch von den Fundamenten auf die Fassaden, weil Kaiser Augustus, der in seiner langen Amtszeit ein moralisches Ideal der Einfachheit vorgab und eisern durchzog, Lapis Tiburtium als edles Material propagierte. So steht das Marcellus-Theater, gebaut 13 bis 11 v.Chr., innen noch in Tuff und Ziegel, außen aber in prachtvollen, gerundeten Travertinblöcken da. Das war die Wende vom funktionalen Baustoff zum "Stein des Imperiums".
Weil Travertin von da an für "Romanitas" stand, tauchte er in allen zivilen öffentlichen Architekturen auf, die den Bürgern ja nicht nur zugute kamen, sondern ihnen auch von der Macht und Effizienz der Institutionen zu sprechen hatten: Stadttore, Aquädukte, Brücken, Theater – Travertin. Und das Kolosseum, klar, der größte Bau der alten Römer – Travertin, mehr als 250.000 Tonnen. Während die ersten Päpste schon im Untergrund wirkten, sahen sie in ihrer Stadt die Bauten aus Lapis Tiburtium wachsen. Wobei, auch das ist festzuhalten, das Reich dann mit wachsender Ausdehnung und immer hitzigerem Herrschaftsanspruch mehr und mehr kostbaren Marmor aus eingemeindeten exotischen Provinzen importierte. Das alte Rom war da nicht nationalistisch verengt.
Travertin wurde trotzdem weiter verwendet, bis hinein in die erste Zeit der Völkerwanderung. Dann, mit dem Untergang des Römischen Reiches ab 476, kam für ein Jahrtausend vieles zum Erliegen. Rom schrumpfte von der Hauptstadt der Welt zu einem größeren Dorf mit einigen zehntausend Einwohnern (Höchststand war eine Million gewesen). Die Steinbrüche in Tivoli wurden nutzlos. Trümmer aus Travertin und Marmor lagen in Rom genug herum, man kaperte sie zwecks Zweitnutzung oder brannte auch mal Statuen und antike Friese zu Kalk, wollte man sich ein Häuschen bauen.
Mit den Renaissance-Päpsten kam der Travertin zurück
Erst im 15. Jahrhundert kam Travertin zurück – natürlich mit den Päpsten der Renaissance. Der an der Antike geschulte Traum, zu alter Herrlichkeit zurückzufinden, ließ die Bischöfe von Rom den Kopf heben. Papst Paul II. Barbo (1464-1471), der aus Venedig stammte, baute sich in Rom einen Palast, der Standards setzte. Das tragende Element des Palazzo Venezia, der ganze Innenhof, die Treppen, die Segnungsloggia, die ein Papst zwingend braucht für seine feierlichsten Auftritte, sie bestehen aus einem einzigen Material: Travertin. Der ganze Zuschnitt erinnert höchst gewollt und gekonnt ans Kolosseum, zum ersten Mal so ausdrücklich in der Architektur des 15. Jahrhunderts. Hier sollte nicht einfach groß gebaut, sondern Großes zitiert werden, um eigene Größe zu suggerieren.
Palazzo Venezia markiert die Wiedergeburt des Travertin, seither kam Rom nie mehr ohne aus. Julius II. – der Papst, der Alt-Sankt Peter abreißen und Neu-Sankt Peter anfangen ließ – musste in Tivoli den alten Steinbruch wiederbeleben und neue eröffnen lassen, die bis heute liefern. Das kulturelle Paradigma und die künstlerische Vision der Renaissance und später des Barock verlangten Volumen, Dreidimensionalität, Licht-Schatten-Effekte, und besser als Lapis Tiburtium kann sich ein Stein da nicht verhalten mit seinem Farbenspiel und seiner Vielseitigkeit. So kamen allein für den Petersplatz fast 400 Säulen und Pfeiler aus Tivoli, und als wäre sein zweiter Boom in der Architektur nicht genug, hielt der Travertin nun auch noch triumphalen Einzug in die Plastik, worauf die alten Römer gar nicht gekommen waren. Aus Travertin sind die Heiligenfiguren auf den Petersplatz-Kolonnaden und die Engelsstatuen auf der Engelsbrücke wie auch die Figuren in den vielen monumentalen Schaubrunnen, die nach dem Willen der Päpste jetzt ihre Stadt zierten. Besonders exquisit: Berninis Vierströmebrunnen auf der Piazza Navona (1651). Weil das Barock Materialmix mochte und Travertin etwas bodenständiger als Marmor daherkommt, formte Bernini alles, was Natur darstellte – den "Fels", die Vegetation und die Tiere – aus Travertin, die Flussgötter aber aus Marmor.
Es liegt auf der Hand, dass auch die Nachfolger der Päpste als römische Stadtherren auf einen derart mit Macht, Ästhetik und Historie aufgeladenen Baustoff nicht verzichten konnten; nach Italiens Einigung 1870 regierten die Könige, ab 1922 für zwei Jahrzehnte Mussolini und heute die Stadtverwaltung, und alle bauten und bauen mit Travertin. Einen einzigen, allerdings riesigen Ausreißer erlaubte man sich 1911: Das Nationaldenkmal für König Vittorio Emanuele II. auf der Piazza Venezia, von den Römern als "Hochzeitstorte" verunglimpft, besteht aus blankweißem Kalkstein aus Brescia. Wie das? Der Ratspräsident, der das genehmigte, stammte, nun ja: aus Brescia. Faschistenführer Mussolini zog dafür in Blitzbauzeit einen Bahnhof (Ostiense), ein Stadion (Foro Italico) und ein ganzes Stadtviertel (EUR) aus Travertin hoch. Zeitgenössische Architekten nutzen den Stein für öffentliche Prestigebauten wie Richard Meier für das Museum der Ara Pacis (2006); jedes noch so bescheidene römische Mietshaus heute hat zumindest Fensterstürze aus Travertin, und ein privater Bauherr, der sich auch das partout nicht leisten kann, lässt sich falschen Travertin mit Schwämmen auf den Putz auftupfen, um wenigstens den Schein zu wahren. Die ebenfalls notorisch klamme Stadtverwaltung spart lieber beim Benzin für Autobusse als beim Material für Bordsteinkanten, die zuverlässig aus Tivoli stammen.
Rom auf Schritt und Tritt: Travertin. Es geht nicht anders.
Kolumne "Römische Notizen"
In der Kolumne "Römische Notizen" berichtet die "Vatikan News"-Redakteurin Gudrun Sailer aus ihrem Alltag in Rom und dem Vatikan.