Kolumne: Mein Religionsunterricht

Wie durch Konfession Werte vermittelt werden können

Veröffentlicht am 04.06.2021 um 15:45 Uhr – Lesedauer: 

Bonn/Münster ‐ Ethische Fragen stellen sich immer wieder – und erfordern Wissen und Haltung. Diese findet Marcus Hoffmann im Religionsunterricht. Da spielt auch die Konfessionalität eine Rolle, schreibt er – und reagiert damit auf aktuelle Diskussionen.

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Religionsunterricht in der 10. Klasse. Laut Lehrplan sollen die Schülerinnen und Schüler in dieser Jahrgangsstufe lernen, sich mit komplexeren ethischen Fragestellungen auseinanderzusetzen und unterschiedliche ethische Argumentationsmodelle anzuwenden. Weil die "großen" ethischen Themenfelder jedoch erst im Folge-Schuljahr vorgesehen sind, entscheide ich mich dafür, mit meinen Schülerinnen und Schülern in diesem Jahrgang über die Frage zu diskutieren, inwieweit es ethisch vertretbar oder fragwürdig ist, die Ausstellung Körperwelten des Anatomen Gunther von Hagens zu besuchen.

Das Problembewusstsein für diese Thematik scheint in letzter Zeit ziemlich abgeflaut zu sein. Vielleicht reagieren die meisten Jugendlichen aus meinem Kurs deshalb auch eher irritiert, als ich sie mit einem Ausstellungsposter und der Ausgangsfrage konfrontiere, wie sie die umstrittene "Menschenschau" bewerten würden. In einer ersten (anonymisierten) Abfrage, die ich per Smartphone von der Lerngruppe einhole, bitte ich sie um eine Positionierung: 19 von 25 geben an, sie würden die Ausstellung ohne Bedenken besuchen, sechs von ihnen zeigen sich eher skeptisch und lehnen einen Besuch ab – ein spannendes und ehrliches Ergebnis.

In den Stunden der darauffolgenden Unterrichtssequenz arbeiten wir uns dann im Wesentlichen an den Schritten ethischer Urteilsbildung entlang: Wir erarbeiten Sachinformationen, schauen uns anhand unterschiedlicher Statements an, welche Positionen und Begründungen vertreten werden, und analysieren die Werte und Normen, die darin jeweils zum Ausdruck kommen.

Wissenschaft oder Voyeurismus

Um zu erkennen, dass sich beispielsweise das Argument der "wissenschaftlichen Forschung" als kaum tragfähig erweist, genügt es schon, drei bis vier Exponate aus der Ausstellung genauer unter die Lupe zu nehmen: Schnell erkennen die Schülerinnen und Schüler, dass es wohl weniger um wissenschaftliches Interesse als vielmehr um einen fragwürdigen Voyeurismus geht, wenn Verstorbene als Paar beim Liebesakt drapiert werden oder Körperspender dafür herhalten, einen burlesken Pokerabend nachzustellen. Auch erkennen die Jugendlichen, dass es nicht nur die persönliche Sache einer Mutter ist, wenn sich diese dafür entscheidet, sich als Schwangere mit offenem Bauch zur Schau stellen zu lassen. Trotzdem ist es mir wichtig, dass auch ausreichend Stimmen zu Wort kommen, die dem umstrittenen Projekt positiv gegenüberstehen. Am Ende sollen die Schülerinnen und Schüler schließlich selber eine begründete Meinung entwickeln und Argumente differenzieren können. Genau dies tun meine Schülerinnen und Schüler auch und erhalten von mir nach dem Abschluss der Sequenz noch einmal die Aufforderung, anonym über die Ausstellung abzustimmen. Das Ergebnis: Nur noch vier der 25 TeilnehmerInnen geben an, dass sie einen Besuch unproblematisch sehen, 21 melden nun doch größere Vorbehalte an – eine beachtliche Veränderung.

Wenn ich im Nachgang meine Unterrichtssequenz reflektiere, so drängen sich mir vor allem zwei Gedanken bzw. Gefühle auf. Zunächst einmal bin ich grundsätzlich zufrieden: Die Schülerinnen und Schüler haben in diesen Stunden viel herausgearbeitet und gelernt! Das mache ich nicht daran fest, dass mir das Abstimmungsergebnis am Ende gefällt (auch wenn dies natürlich ein erfreulicher Indikator für ein gestiegenes Problembewusstsein ist), sondern daran, dass ich erlebt habe, wie aus einem (anfangs eher spröden) Thema eine echte Problemstellung erwachsen ist, die dann intensiv und motiviert diskutiert wurde.

Zur Zufriedenheit kommt Frust

Zu der Zufriedenheit gesellt sich aber auch ein gewisser Frust. Der hat jedoch – genau genommen – viel weniger mit dieser konkreten Unterrichtssequenz selbst zu tun als vielmehr mit dem, was in letzter Zeit in der Öffentlichkeit wieder über den Sinn oder Unsinn des konfessionellen Religionsunterrichts diskutiert wird. Denn die Argumente und Vorstellungen, die hier geäußert werden, fußen in vielen Fällen leider auf mangelnder Kenntnis und falschen Vorstellungen von den Zielen und Konzepten des konfessionellen Religionsunterrichts und werden dem, was das Fach leisten kann und will, nicht gerecht.

Bild: ©picture alliance/Jens Wolf

Über Sinn und Form des Religionsunterrichts wird gerade wieder diskutiert.

Pointiert könnte man die Situation so zusammenfassen: Auf der einen Seite stehen die, die lauthals fordern, konfessioneller Religionsunterricht gehöre grundsätzlich – erst recht im 21. Jahrhundert – nicht (mehr) in die öffentliche Schule. Religion sei nun mal Privatsache und müsse am besten durch ein Fach wie Ethik oder maximal eine "neutrale" Religionskunde ersetzt werden. Auf der anderen Seite winkt die Fraktion derer, die meint, im konfessionellen Religionsunterricht würde heutzutage ohnehin viel zu wenig gelehrt und gelernt, was einen guten Katholiken oder eine gute Protestantin ausmacht. Deshalb: Schluss mit den allgemeinen Lebensthemen und zurück zu mehr echter "Glaubenskunde". In vielen Diskussionen – auch in den Threads der sozialen Netzwerke – tauchen diese Begründungsfiguren immer wieder auf.

Beide Positionen urteilen und schlussfolgern jedoch unangemessen, und zwar einfach deshalb, weil sie sich nicht damit auseinandergesetzt haben, welche Ziele der konfessionelle Religionsunterricht von seinem Selbstverständnis her überhaupt verfolgt und was die Begriffe "Bekenntnis" und "konfessionell" im Kontext religionsdidaktischer Konzepte überhaupt bedeuten. Wer dem auf die Spur kommen will, der muss in die 1970er-Jahre zurückblicken und darauf schauen, was die Würzburger Synode dem Religionsunterricht bereits damals als Fundament ins Stammbuch geschrieben hat, nämlich dass dieser ganz ausdrücklich nicht das Ziel verfolgt, in den Glauben einzuführen (wie die Katechese), sondern die Kinder "zu persönlicher Entscheidung in Auseinandersetzung mit Konfessionen und Religionen, mit Weltanschauungen und Ideologien" zu befähigen. (Gemeinsame Synode, 139f.). Kurz gesagt: Hier werden keine frommen Schäfchen gezüchtet und auch keine Noten für Gläubigkeit erteilt, sondern Sach- und Urteilskompetenzen erworben. Und das ist auch gut und sinnvoll, wenn das Fach seinem öffentlichen Bildungsauftrag gerecht werden soll. Wer also dem Konzept des Religionsunterrichts Bekehrung als Motiv vorhält, beweist damit nur einen Mangel an Sachkenntnis. Auch die Lehrpläne sind im Übrigen kein Manifest kirchlicher Indoktrination, sondern werden von Kirche(n) und Staat gemeinsam entwickelt und verantwortet.

Mehr als Religionskunde

Gleichzeitig versucht das Konzept der Konfessionalität aber zu berücksichtigen, dass es im Religionsunterricht eben um mehr geht als eine von außen betrachtete "Religionskunde". Das hat vor allem auch damit zu tun, dass Bildung de facto niemals in einem "wertesterilen" Raum erworben wird. (Dies wäre übrigens auch nicht Ziel des demokratischen Bildungsauftrags.) Vielmehr erlernt der Mensch Dialogfähigkeit nun mal von bestimmten Positionen aus, weshalb Religionslehrerinnen und -lehrer als Zeuginnen und Zeugen des Glaubens Rede und Antwort stehen sollen. Sie sollen den Heranwachsenden aus der Binnenperspektive authentisch Auskunft darüber geben, was bestimmte Glaubensinhalte für sie bedeuten, an welchen Stellen sie ihren Glauben als Gewinn oder auch als schwierig erleben. Konfessionalität ist somit – in aller Kürze gesagt – nicht mehr oder weniger als der Versuch, sowohl durch sachkundige Expertise als auch persönliches Zeugnis aufzuzeigen, was es bedeuten kann, Sinnfragen von der Option des Glaubens her zu beantworten: keine Indoktrination, keine Überwältigung, sondern Wertediskussionen und eine Transparentmachung der Lebensrelevanz von Inhalten.

In ähnlicher Weise geschieht dies in anderen Unterrichtsfächern übrigens auch: Auch die Deutschlehrerin, die mit ihrer Klasse über Erich Frieds "Es ist was es ist" sinniert oder der Geschichtslehrer, der vom miterlebten Mauerfall erzählt, bringt sich mit seiner Person in die Inhalte seines Unterrichts ein, verleiht ihnen Anschauung und Authentizität, damit Dinge greifbar werden und die Kinder und Jugendlichen sich daran abarbeiten können.

Ja, auch in einem (vermeintlich neutralen) Ethik-Unterricht ist vieles davon lernbar – etwa wie man die Körperwelten des Gunther von Hagens utilitaristisch oder deontologisch hinterfragt. Wenn ich meiner Klasse aber deutlich mache, inwiefern für katholische Christen Leib und personale Identität zusammenhängen, und warum ich mit meinem Leib und meiner Identität später lieber in Würde ruhen statt auf einer Wanderausstellung unterwegs sein wollen würde – dann ist das eben doch einer der Momente, der meinem Unterricht eine Prise Konfessionalität verleiht. Und ich habe nicht den Eindruck, dass er der religiösen Mündigkeit meiner Schülerinnen und Schüler im Weg stehen würde.

Von Marcus Hoffmann

Der Autor

Marcus Hoffmann unterrichtet die Fächer Katholische Religionslehre und Geographie am Ratsgymnasium in Münster. Er arbeitet außerdem als Fachleiter für Katholische Religionslehre am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Münster. Seit 2015 ist er Vorsitzender im Verband der katholischen Religionslehrerinnen und –lehrer (an Gymnasien und Gesamtschulen) des Bistums Münster (VKRM).

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