Erzbistum Berlin veröffentlicht gesamtes Gutachten zu Missbrauch
Das Erzbistum Berlin hat am Freitag den bisher unveröffentlichten Teil seines Gutachtens über Missbrauch durch Geistliche ins Internet gestellt. Die Autoren beschreiben darin 61 Fälle und benennen dabei die aus ihrer Sicht gemachten Fehler im Umgang mit den Beschuldigten.
Die Gutachter stellen insgesamt sieben Verstöße gegen die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) fest, zum Beispiel, dass Informationen nicht korrekt weitergegeben wurden, dass Beschuldigte nicht mit Vorwürfen konfrontiert wurden oder dass kein Kontakt zu namentlich bekannten Betroffenen gesucht wurde.
Im Gegensatz zu jüngsten Missbrauchsgutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) oder des Kölner Büros Gercke Wollschläger bewerten sie aber nicht zusammenfassend das Verhalten der benannten Verantwortungsträger und sprechen auch nicht von "Pflichtverletzungen".
In 12 Fällen wird Kardinal Woelki erwähnt
In 12 Fällen wird Kardinal Rainer Maria Woelki als früherer Erzbischof von Berlin erwähnt. In einem davon bekunden die Autoren ihre Verwunderung über die Einstellung des Voruntersuchungsverfahrens, was nach der Aktenlage nicht erklärlich sei. In einer ausführlichen Stellungnahme hatte Woelki zuvor seine Entscheidung verteidigt: Ihm habe der bestellte Ermittlungsrichter damals einen umfassend ermittelten Sachverhalt unterbreitet, der eine Einstellung des Verfahrens gerechtfertigt habe.
In 13 Fällen wird der amtierende Berliner Erzbischof Heiner Koch genannt. In einem Fall wurde ein Beschuldigter 2016 an einem seiner früheren Einsatzorte beerdigt, obwohl ein Dekret von Kardinal Woelki aus dem Jahr 2012 dies untersagt hatte. Das kirchliche Verfahren war unter Woelki eingestellt worden.
In einem anderen Fall äußern sich die Gutachter "verwundert", dass Koch trotz geäußerter Bedenken des Personalchefs und mehrerer aktenkundiger Beschuldigungen einen Geistlichen "ohne Einschränkungen" für den Einsatz in der Auslandsseelsorge empfahl und ihm einen "einwandfreien Charakter und Ruf" bescheinigte. Zwei strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten wurden eingestellt, ein kirchliches Verfahren gab es nicht. Koch erläuterte in einer Stellungnahme ausführlich seine Entscheidung.
Bei dem jetzt veröffentlichten Teil handelt es sich um 442 von 669 Seiten der Studie, die von der Anwaltskanzlei "Redeker Sellner Dahs" im Auftrag des Erzbistums zum Thema "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich des Erzbistums Berlin seit 1946" erstellt wurde. Darin sind jedoch weiterhin teilweise die Namen der Beschuldigten und weitere Angaben zu ihnen geschwärzt, um nach Angaben des Erzbistums die Persönlichkeitsrechte von Beschuldigten und Betroffenen zu schützen.
Einzelfälle wurden zunächst nicht veröffentlicht
Bei der Bekanntgabe des Gutachtens Ende Januar hatte das Erzbistum entschieden, die Einzelfälle zunächst nicht zu veröffentlichen, um vorab noch Fragen des Datenschutzes zu klären. Dies betraf auch die dazu gehörenden Stellungnahmen von Personalverantwortlichen, unter anderem von Erzbischof Koch, seinem Amtsvorgänger und jetzigem Kölner Kardinal Woelki sowie dem amtierenden Weihbischof Matthias Heinrich. Diese Entscheidung stieß über das Erzbistum hinaus auf Kritik.
In dem bereits im Januar veröffentlichten Teil mit zusammenfassenden Erkenntnissen und Empfehlungen kritisierten der Anwalt Peter-Andreas Brand und die Anwältin Sabine Wildfeuer, dass viele "Missstände" wie mangelnder Wille zur Aufklärung dazu beigetragen hätten, sexuellen Missbrauch von Minderjährigen zu begünstigen und dessen Bestrafung zu verhindern.
Geteiltes Echo
Die Reaktionen zur Veröffentlichung des Gutachtens fielen unterschiedlich aus. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, erklärte, es sei "ein wichtiger und weiterer richtiger Schritt" hin zu "ungeschwärzter Transparenz" bei einer unabhängigen Aufarbeitung von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im katholischen Kontext. "Die konstruktive und dankenswerte Kritik von katholischen Laien, Betroffenen und der Medien ist maßgeblich für aktuelle Fortschritte bei der Aufarbeitung", betonte Rörig.
Die Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch" dagegen bezeichnete die "kommentarlose Veröffentlichung" am selben Tag auf der Homepage des Erzbistums Berlin als "etwas seltsam". Das zeige, wie schwer den Verantwortlichen der Umgang mit Opfern und Aufarbeitung falle, sagte der Sprecher des "Eckigen Tisches", Matthias Katsch. Dies betreffe etwa die Geistlichen aus Ordensgemeinschaften, die auf dem Gebiet des Erzbistums tätig seien.
Der Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Berlin begrüßte die Veröffentlichung. Damit entspreche die Bistumsleitung einer Forderung der höchsten Laienvertretung im Erzbistum. Die im Gutachten geforderten Konsequenzen müssten bis nach dem Sommer in einem Maßnahmenplan mit Zielvorgaben veröffentlicht werden. (mpl/KNA)
18.6., 18:45 Uhr: Ergänzt um Reaktionen.