Viele Fakten, wenig Bewertung: Das Berliner Missbrauchsgutachten
Erzbischof Heiner Koch hat sein Versprechen wahr gemacht: Auch der bislang unveröffentlichte Teil des in seinem Auftrag erstellten Gutachtens über sexuellen Missbrauch durch Geistliche seit 1946 im Erzbistum Berlin ist seit Freitag online zu lesen.
Auf diesen 442 der insgesamt 669 Seiten hat die Anwaltskanzlei "Redeker Sellner Dahs" auf Grundlage der Personalakten die Fälle von 61 Geistlichen dargestellt, die wegen sexualisierter Gewalt gegen mindestens 121 Kinder und Jugendliche beschuldigt werden. Auch darauf bezogene Stellungnahmen von Personalverantwortlichen sind nun öffentlich – unter anderem von Erzbischof Heiner Koch, seinem Amtsvorgänger, Kardinal Rainer Maria Woelki, sowie dem amtierenden Weihbischof Matthias Heinrich.
Teilweise sind die Namen der Priester und Ordensleute und weitere Angaben zu ihnen jedoch geschwärzt, um nach Angaben des Erzbistums die Persönlichkeitsrechte von Beschuldigten und Betroffenen zu schützen. Warum dies jeweils erfolgte, erschließt sich nicht in jedem Fall. So sind etwa auch noch lebende Beschuldigte fallweise namentlich genannt. Dagegen ist der Name des als "prominentester Kleriker" bezeichneten Beschuldigten unleserlich gemacht, obwohl er bereits tot ist und in Gutachten anderer Bistümer Beschuldigte von ähnlichem Rang als Personen der Zeitgeschichte mit Klarnamen genannt werden.
"Missstände" und mangelnder Wille zur Aufklärung
Dennoch illustrieren die Angaben zu den Funktionen der Beschuldigten, den Inhalten der Vorwürfe, zu kirchlichen und staatlichen Ermittlungs- und Strafverfahren sowie zum Umgang des Erzbistums mit den Fällen die zusammenfassenden Erkenntnisse und Empfehlungen, die Anwalt Peter-Andreas Brand und Anwältin Sabine Wildfeuer bereits Ende Januar vorgestellt hatten. Sie monierten viele "Missstände" wie mangelnden Willen der Personalverantwortlichen zur Aufklärung. Dies habe dazu beigetragen, sexuellen Missbrauch von Minderjährigen zu begünstigen und dessen Bestrafung zu verhindern.
Auch habe es eine "unordentliche und uneinheitliche Aktenführung" und mangelnde Kommunikation unter den Personalverantwortlichen gegeben. Bei der Aufklärung von Missbrauch seien kirchenrechtliche Vorschriften oft "bewusst oder fahrlässig" missachtet worden. Die Gutachter riefen unter anderem dazu auf, verstärkt nach weiteren Betroffenen zu suchen. Koch und sein Generalvikar Manfred Kollig sicherten dies bereits zu.
"Pflichtverletzung" kommt kein einziges Mal vor
Im nun veröffentlichen Gutachtenteil sind zu einigen Fällen Stellungnahmen von Woelki, Koch, Heinrich und weiteren im jeweiligen Fall zuständigen Personalverantwortlichen beigefügt. Mit Blick darauf nehmen die Gutachter aber keine juristische Bewertung möglicher Pflichtverletzungen vor. Stattdessen äußern sie sich acht Mal "verwundert" über Verhalten und Entscheidungen in der Bistumsleitung. 20 Mal sind sie "erstaunt" über eigenwillige Vorgänge und Aktenlagen. Das Wort "Pflichtverletzung" kommt kein einziges Mal vor.
Gleichwohl stellen die Gutachter insgesamt sieben Verstöße gegen die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz fest – etwa, dass Wissen über Beschuldigungen nicht an die Bistumsleitung gemeldet wurde, dass Beschuldigte nicht mit Vorwürfen konfrontiert wurden oder dass kein Kontakt zu namentlich bekannten Betroffenen gesucht wurde. Nicht in allen Fällen ist dabei klar, wer exakt für den Verstoß verantwortlich zu machen ist und ob es willentlich geschah.
Das Gutachten enthält keine Zusammenfassung, welche leitenden Verantwortlichen wann welche Fehler im Umgang mit den Missbrauchsfällen gemacht haben. Darin unterscheidet sich die Berliner Studie von anderen wie denen der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl und des Kölner Büros Gercke Wollschläger für das Erzbistum Köln. Diese ziehen – anders als in Berlin – auch ein Resümee über das Verhalten der einzeln benannten Verantwortungsträger.
Meisner bei vier Fällen genannt
Der Name des früheren Berliner und späteren Kölner Erzbischofs Joachim Meisner, dem in Köln ja zahlreiche schwere Pflichtverletzungen vorgeworfen werden, taucht übrigens bei nur 4 der 61 Fälle auf, überwiegend im Zusammenhang mit biografischen Angaben Beschuldigter. Nur beim Umgang mit einem Beschuldigten zeigen sich die Gutachter "verwundert" über Meisners Verhalten.
Was folgt jetzt als nächstes? Die weitere Bewertung der Fälle liegt bei einer vom Erzbistum eingesetzten Kommission aus jeweils drei Vertreterinnen und Vertretern des Priesterrats und der höchsten Laienvertretung im Erzbistum, des Diözesanrats der Katholiken. Erste Ergebnisse will das Gremium noch vor der Sommerpause vorlegen und seine Arbeit zum Ende des Jahres 2021 abschließen. Auch deren Ergebnisse und die daraus zu ziehenden Konsequenzen will Erzbischof Koch veröffentlichen.
Das Gutachten
Das gesamte Gutachten ist auf der Internetseite des Erzbistums Berlin abrufbar.