Soziologe: Pilgern bietet große Chance für die Kirche
Die Gründe, warum Menschen den Jakobsweg pilgern, haben sich im Laufe der Jahrhunderte stark verändert, sagt Christian Kurrat. Der Soziologe lehrt an der Fernuniversität Hagen und forscht zur Renaissance des Pilgerns auf dem Jakobsweg. Im Interview spricht er auch darüber, welche Enwicklung er nach der Corona-Pandemie erwartet.
Frage: Herr Kurrat, wenn man sich die öffentliche Wahrnehmung des Pilgerns heute anschaut, kann man den Eindruck bekommen, dass sich spätestens seit dem Buch "Ich bin dann mal weg" von Hape Kerkeling eine Renaissance des Pilgerns auf dem Jakobsweg entwickelt hat. Beobachten Sie das auch?
Kurrat: Ja, spätestens seit Hape Kerkeling ist es zu einem Boom des Pilgerns auf dem Jakobsweg und in jüngster Zeit auch auf anderen Pilgerwegen gekommen. Kerkelings Buch ist 2006 erschienen und innerhalb von einem Jahr ist die Zahl der deutschen Pilger um 70 Prozent gestiegen. Er hat damit einen Nerv der Zeit getroffen. Auch in anderen Ländern zeigt sich, dass nach populären Veröffentlichungen die Zahl der Pilgerinnen und Pilger ansteigt.
Frage: Wie ist das aktuell? Hält dieser Boom auch nach 15 Jahren noch an?
Kurrat: Bis zur Corona-Pandemie sind die Pilgerzahlen jährlich immer weiter angestiegen. 2019 mit dem bisherigen Rekord von 350.000 registrierten Pilgerinnen und Pilgern auf dem Jakobsweg – die Dunkelziffer dürfte nach Schätzungen sogar um 20 bis 25 Prozent höher liegen. Durch Corona hat es aber einen massiven Einbruch gegeben. Eigentlich hatte die galizische Landesregierung für 2021 – wir haben ja im Moment ein Heiliges Jahr, weil der Jakobustag in diesem Jahr ein Sonntag ist – mit einem neuen Rekord von rund 565.000 Pilgern gerechnet. Da ist nun passé. Wie sich der Jakobsweg erholen wird, wird man hoffentlich bald sehen.
Frage: Was fasziniert Menschen denn grundsätzlich daran, sich als Pilger auf den Jakobsweg zu machen?
Kurrat: Da spielen mehrere Aspekte eine Rolle. Zunächst einmal bekommen Menschen durch populäre Veröffentlichungen ein Bild davon, was das Pilgern eigentlich genau ist und was man dabei macht. Zudem spielt für viele das Gefühl einer diachronen Gemeinschaft eine Rolle, also sich bewusst zu sein, dass man auf Wegen läuft, auf denen schon vor 1.000 Jahren Menschen gegangen sind. Man fühlt sich sozusagen mit der Geschichte und den Menschen aus früheren Jahrhunderten verbunden. Auf der anderen Seite hat die außeralltägliche Erfahrung der Pilgerreise den besonderen Reiz eines Abenteuers. Der moderne Mensch verbringt seinen Urlaub meistens anders, als bei Wind und Wetter 800 Kilometer zu Fuß mit einem kleinen Rucksack zu wandern. Durch die populären Veröffentlichungen wird zudem das Versprechen transportiert, dass dieser Weg einem eine Lösung für biografische Krisen und Umbruchssituationen anbietet – dass man also anders wiederkommt, als man losgelaufen ist.
Frage: Spielen denn religiöse Gründe heute noch eine Rolle dafür, dass sich die Menschen auf den Weg machen?
Kurrat: Für viele Pilger, die auch in ihrem Alltag religiöse Praktiken ausüben, sind es klassische religiöse Motive. Gleichzeitig ist das Pilgern aber auch für Menschen attraktiv geworden, die in ihrem Alltag nicht religiös unterwegs sind. Dafür bietet insbesondere der Jakobsweg eine einmalige Infrastruktur: Man kann religiös pilgern, man muss es aber nicht. Es gibt sowohl die kirchlichen Herbergen und kirchliche Angebote wie den Pilgersegen oder auch die Messe in Santiago. Es gibt aber genauso auch Angebote für Menschen, die mit Religion noch nicht oder nicht mehr die Berührung haben. Es ist interessant zu beobachten, wie sich die Offenheit für Religion auch bei diesen Menschen während des Pilgerns verändert. Sie haben uns in Interviews von Wundern oder von den Gemeinschaftserfahrungen berichtet, wenn man beispielsweise abends gemeinsam betet oder Lieder singt.
Frage: Inwiefern kann das für die Kirche eine Chance sein?
Kurrat: Die Kirche hat dadurch die große Chance, Menschen dort abzuholen und für Angebote in der Heimatgemeinde zu gewinnen. An dieser Offenheit am Ende des Weges anzuknüpfen, ist der Schlüssel – und da gibt es auch schon sehr gute Angebote durch die Pilgerseelsorge. Diese Angebote müssten ausgebaut und gerade im Alltag niederschwellig angeboten werden, um die Erfahrungen präsent zu halten. Wir stellen fest, dass die Offenheit für Religion nach der Rückkehr in den Alltag auch schnell wieder nachlässt. Es sind vielleicht ein paar Wochen, in denen das Gefühl und die Offenheit vom Jakobsweg sehr präsent sind, aber das verblasst durch das Eingebundensein in den Alltag schnell wieder. In den Nachbefragungen stellen wir aber fest, dass ehemalige Pilger sich Orte und Gemeinschaften wünschen, um die Erfahrungen des Wegs lebendig zu halten, weil sie in ihrem privaten Umfeld zwar oft Bewunderung und Respekt für die Leistung bekommen, aber mitunter nicht das Verständnis, weil andere auf einer tieferen Ebene nicht nachvollziehen können, was der Jakobsweg mit ihnen gemacht hat.
Frage: Sie sind von Haus aus Soziologe. Was interessiert Sie persönlich besonders am Phänomen des Pilgerns auf dem Jakobsweg?
Kurrat: Mich interessiert vor allem, in welchen biografischen Situationen Menschen sich auf den Jakobsweg begeben. Es ist kein normaler Urlaub, den man bucht, sondern da ist ein langer Entscheidungsprozess vorangegangen. Zuerst muss ich davon erfahren, dass es so einen Weg gibt. Viele Menschen parallelisieren das, was sie in den Medien hören und lesen, mit ihrem eigenen Leben. Und in typischen biografischen Krisen und Umbruchssituationen ist der Jakobsweg ein Weg, um mit diesen Situationen umzugehen. Das lässt sich in fünf Haupttypen von Pilgern zusammenfassen: Menschen pilgern, um ihr Leben zu bilanzieren, eine Krise zu verarbeiten, sich eine Auszeit zu nehmen, einen Übergang zu gestalten oder einen Neustart zu initiieren.
Linktipp: Was Wallfahrten mit Seuchen zu tun haben
Wallfahrten müssen in diesem Jahr wegen Corona anders stattfinden, wurden verschoben oder sogar komplett abgesagt. Dabei stehen Pandemien und Wallfahrten seit Jahrhunderten in einem besonderen Verhältnis zueinander. Das könnte für heute eine Inspiration sein, sagt Kirchenhistoriker Norbert Köster.
Frage: Ist das ein großer Unterschied zu früheren Zeiten?
Kurrat: Ja. Früher sind Menschen nach Santiago gepilgert, um für etwas zu bitten, zu danken oder um Buße zu tun. Und dieses Motiv hat sich auch in die Postmoderne hinübergerettet, allerdings mit dem Unterschied, dass früher das Ziel entscheidend war, heute ist es der Weg, der entscheidend ist. Man kann im Grunde genommen sagen: Das Seelenheil wurde damals im Jenseits gesucht und heute im Diesseits.
Frage: Wir haben über den neuen Boom und die Bedeutung des Pilgerns in früheren Zeiten gesprochen. Was hat dazu geführt, dass es ein Abflachen gab?
Kurrat: Das sind vielfältige kulturhistorische Entwicklungen. Die Hochzeit des Pilgerns hat nach dem Ende des Mittelalters vor allem durch Kriege, die Reformation oder die Armut in breiten Bevölkerungsschichten abgenommen. All das sind Entwicklungen, die über zwei bis drei Jahrhunderte dazu geführt haben, dass etwa Santiago de Compostela – wie es ein Autor Anfang des 20. Jahrhunderts formuliert hat – zu einer "toten Stadt" geworden ist. Und die Wiederbelebung begann in den frühen 1970ern. In einem Interview hat eine Pilgerin berichtet, dass sie sich Mitte dieses Jahrzehnts mit ihrer Pilgergruppe anhand von Militärkarten orientieren, weil der Jakobsweg nicht wie heute ausgeschildert war. Weil man damals noch keine Stempel vorweisen konnte, musste man als Beweis für die vollbrachte Pilgerschaft seine abgelaufenen Schuhe und seine nackten Füße vorzeigen, um die Urkunde zu erhalten. Spätestens mit Papst Johannes Paul II., der Santiago zu einem wichtigen Ort für die Jugend in Europa gemacht hat, und durch populäre Veröffentlichungen ist die Renaissance des Jakobswegs langsam in Gang gekommen und war bis 2019 kaum noch zu stoppen.
Frage: Was erwarten Sie, wie wird es nach der Corona-Pandemie mit den Pilgerzahlen weitergehen? Hält der Boom an?
Kurrat: Es ist schwierig, da eine Prognose zu wagen. Da es aber viele "Wiederholungstäter" gibt, die auch ein zweites, drittes oder zwanzigstes Mal den Jakobsweg gehen, werden sich die Pilgerzahlen wieder erholen, denke ich. Vielleicht nicht anknüpfend an das Niveau von 2019, aber das Bedürfnis ist groß, etwas Außeralltägliches zu machen und sich auf den Weg zu begeben.
Zur Person
Dr. Christian Kurrat ist Sozialwissenschaftler an der Fernuniversität in Hagen. Seine Promotion verfasste er zur Renaissance des Pilgerns auf dem Jakobsweg. Hierzu hat er zahlreiche Beiträge veröffentlicht und Vorträge gehalten. Im Rahmen der Pilgerforschung war er unter anderem Gastwissenschaftler an der Universidad de Santiago de Compostela und am Institute for Pilgrimage Studies am US-amerikanischen College of William & Mary.