Nach Gutachten: Marx bittet um Entschuldigung für Missbrauch in Kirche
Der Münchner Kardinal Reinhard Marx hat "als amtierender Erzbischof" um Entschuldigung für Missbrauchstaten im Raum der Kirche gebeten. "Ich bin erschüttert und beschämt", sagte Marx in einer ersten Reaktion auf das am Donnerstag veröffentlichte Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW). Sein erster Gedanke gelte den Betroffenen, die durch Kirchenvertreter "in erschreckendem Ausmaß Unheil und Leid erfahren haben". In dem Gutachten wird Marx Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen. Auch die früheren Münchner Erzbischöfe Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. und Friedrich Wetter werden belastet.
Für ihn selbst hätten die Begegnungen mit Betroffenen eine "Wende" bewirkt und veränderten ihn noch weiter. Die Geschädigten stünden nun "im Mittelpunkt" des Handelns seiner Erzdiözese. Er werde mit seinen engsten Mitarbeitern das Gutachten nun intensiv lesen und sich darüber mit dem Betroffenenbeirat sowie der unabhängigen Aufarbeitungskommission austauschen. "Wir werden auch anhand der Empfehlungen des aktuellen Gutachtens weitere Veränderungen beraten und umsetzen." Er hoffe sehr, dazu schon am kommenden Donnerstag mehr sagen zu können. Dann soll es eine ausführliche Stellungnahme der Bistumsleitung geben.
Der frühere Papst Benedikt XVI. will das Missbrauchsgutachten in den kommenden Tagen studieren und prüfen. Dies teilte sein Privatsekretär Georg Gänswein dem Portal "Vatican News" mit. Bis zum Nachmittag habe der emeritierte Papst keine Kenntnis des Gutachtens gehabt. Benedikt XVI. drücke, "wie er es bereits mehrmals in den Jahren seines Pontifikats getan hat, seine Scham und sein Bedauern aus über den von Klerikern an Minderjährigen verübten Missbrauch", so Gänswein weiter. Er erneuere "seine persönliche Nähe und sein Gebet für alle Opfer, von denen er einige während seiner Apostolischen Reisen persönlich getroffen hatte".
ZdK: Fehlende Einsicht von Benedikt erschreckend
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) forderte nach der Veröffentlichung des Gutachtens ein Ende "der organisierten Verantwortungslosigkeit" in der Kirche. ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp kritisierte am Donnerstag in Bonn zugleich den emeritierten Papst und früheren Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger, der Missbrauchstäter im Priesteramt belassen und immer wieder versetzt habe. Dass der emeritierte Papst in seiner aktuellen Stellungnahme offenbar nach wie vor kein Fehlverhalten einräume, sei erschreckend, so die ZdK-Präsidentin. Sie stelle sich die Frage, ob die Kirchenleitungen ohne politischen Druck ihrer persönlichen Verantwortung gerecht würden. "Im Gegenteil vermitteln Statements von Leitungspersönlichkeiten, dass sie zu keinem Zeitpunkt Entscheidungsgewalt innegehabt hätten." Schuld werde nicht eingestanden, sondern vergessen oder vertuscht.
Das Gutachten mache deutlich, "dass auf die Betroffenen bis 2010 keinerlei Rücksicht genommen wurde", fügte die ZdK-Präsidentin hinzu. Aber das Ausbleiben überzeugender Strukturreformen danach zeige auch, dass rechtswidrige Verhaltensweisen bis in die Gegenwart reichten. Der Perspektivwechsel sei nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals schlecht gelungen. "Auch im Jahr 2022 heißt die bittere Realität: Das System der Vertuschung, des Vergessens und der schnellen Vergebung ist nicht aufgebrochen worden", so Stetter-Karp.
Die ZdK-Präsidentin forderte eine externe Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Sie glaube nicht mehr daran, dass die Kirche die Aufarbeitung allein schaffe. Zu zögerlich seien viele Bistümer daran gegangen, unabhängige Kommissionen einzusetzen. Es gehe nur schleppend voran. Das Münchner Gutachten belege zudem, dass unabhängige Ombudsstellen für Betroffene von sexueller Gewalt eingerichtet werden müssten und auch die Gemeinden, in denen Täter gearbeitet und gelebt hätten, in die Aufarbeitung einbezogen gehörten. Die Präsidentin sieht deshalb den Reformprozess des Synodalen Wegs, der sich in wenigen Tagen zur dritten Synodalversammlung trifft, an einem Scheideweg: "Wir brauchen klare Voten für ein Ende des Machtmissbrauchs – gerade auch von Bischöfen." Entscheidungen müssten zusammen mit der Basis gefunden werden. "Und es ist höchste Zeit, dass Betroffene zu Beteiligten gemacht werden."
Der frühere Generalvikar des Erzbistums München und Freising, Peter Beer, sieht sich durch das Missbrauchsgutachten weder be- noch entlastet. Dies sei nicht die Frage, sagte Beer der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Rom. Vielmehr dokumentiere das WSW-Gutachten, "wie es ist". Als Generalvikar habe er von 2010 bis 2019 gekämpft; dabei seien "auch Fehler passiert", die nun ebenfalls nachzulesen seien.
"Es ist sicherlich zutreffend, dass man mehr hätte machen können", so Beer. Dies gelte vor allem, wenn es darum gehe, Menschen, die Leid erfahren hätten, zuzuhören. Mit seinem Rücktritt habe er einen Anstoß für strukturelle Veränderungen in der Diözesanleitung geben wollen, so Beer. Die Erfahrungen und Auseinandersetzungen der vergangenen zehn Jahre machten ihn aber skeptisch, ob weitere notwendige Veränderungen mit der nötigen Schnelle und Gründlichkeit erfolgten. Den von den Gutachtern erwähnten Vorwurf, auch er habe 2010 auf einen Amtsvorgänger Druck ausgeübt, um den früheren Erzbischof Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. wegen einer umstrittenen Personalie aus der Schusslinie zu nehmen, wies Beer von sich. "Ich habe mit Gruber darüber nicht gesprochen und war damals auch erst sechs Wochen im Amt", so Beer.
Bei der Entscheidung im Januar 1980 war ein wegen Missbrauchs auffällig gewordener Priester aus dem Bistum Essen nach München gekommen. Er sollte dort eine Therapie machen, wurde aber auch in der Seelsorge eingesetzt und missbrauchte weiterhin Kinder. Als dies 2010 erstmals an die Öffentlichkeit gelangte und die internationale Presse nach der Rolle von Ratzinger/Benedikt XVI. fragte, erklärte Generalvikar Gerhard Gruber, er trage die alleinige Verantwortung. Laut dem neuen Gutachten hat Gruber diese Aussage inzwischen relativiert. Nach seinem Rücktritt als Münchner Generalvikar Ende 2019 wechselte Beer ans Kinderschutzzentrum (CCP) der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Das CCP ist inzwischen zu einem Safeguarding-Institut (IADC) ausgebaut worden. Beer ist dort Leiter für Forschung und Entwicklung.
Zollner fordert erneute Reaktion von Benedikt XVI.
Der Kinderschutzexperte und Jesuit Hans Zollner forderte eine erneute Reaktion des emeritierten Papstes auf das Gutachten. Die gegen den früheren Münchner Erzbischof erhobenen Vorwürfe beträfen "einen wichtigen Aspekt seines bischöflichen Verhaltens", sagte der CCP-Leiter dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dazu müsse Benedikt XVI. sich "noch einmal verhalten", forderte Zollner. Der emeritierte Papst wies die Vorwürfe bereits in einer 82-seitigen Stellungnahme, die mit dem Gutachten im Wortlaut veröffentlicht ist, zurück.
Im Zusammenhang mit den aus dem Gutachten resultierenden Vorwürfen müsse klar sein, dass "es nicht nur um die kirchenrechtlichen oder strafrechtlichen Aspekte geht, denn aufgrund der Verjährung ist da nichts mehr zu machen", sagte Zollner weiter. Es müsse um die moralische Verantwortung der Kirche gehen. Die Kanzlei, die das Gutachten erstellt hat, habe einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass nicht nur die rechtliche Seite, sondern auch die "systematische Seite der Institution Kirche" beleuchtet werde.
Auch der Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) forderte Konsequenzen aus dem Gutachten. Wenn die katholische Kirche nach dem "nun bekannten Offenbarungseid" von Benedikt XVI. nicht noch den "allerletzten und verbliebenen Rest ihrer Glaubwürdigkeit verlieren" wolle, müssten die Verantwortlichen "jetzt und sehr mutig" handeln, sagte Sprecher Johannes Norpoth der KNA. Konkret forderte er den Ständigen Rat der Bischofskonferenz, den Hauptausschuss des ZdK und die dritte Synodalversammlung des Synodalen Wegs zum Handeln bei ihren Sitzungen in den kommenden Wochen auf. (tmg/KNA/epd)
Anlaufstelle für Missbrauchsbetroffene
Am Donnerstag nahm eine neue, mit sechs psychotherapeutisch geschulten Mitarbeitern besetzte Anlaufstelle des Erzbistums München und Freising ihren Betrieb auf. Sie ist von Montag bis Samstag von 9 bis 20 Uhr erreichbar. Die Rufnummer lautet 089-213777000.