Küsse am Altar: Als ein "christliches Woodstock" zum Skandal wurde
Vor dem Altar standen Getränkekisten, Jugendliche tanzten in der Kirche und küssten sich. Das Mess-Festival in Hofheim am Taunus im Juni 1971 sollte ein "christliches Woodstock" werden und junge Menschen mit religiös geprägter Popmusik für den Glauben begeistern. Doch dieser besondere Jugendgottesdienst mit mehr als 650 Teilnehmern löste einen Skandal aus, der das Bistum Limburg und die Kirche in Deutschland vor 50 Jahren beschäftigte. Nach Ansicht von Joachim Werz leistete das schlechte Wetter am Tag des Mess-Festivals einen entscheidenden Beitrag dazu, dass die Veranstaltung hohe Wellen sogar bis in den Vatikan schlug. "Hätte das Festival wie geplant unter freiem Himmel stattfinden können, wäre es nicht zur Skandalisierung gekommen", sagt der promovierte Kirchenhistoriker. Doch da sich die schlechten Wetterprognosen bewahrheiteten, mussten die Organisatoren um den damaligen Jugendpfarrer Herbert Leuninger das Event in die Bonifatiuskirche in Hofheim am Taunus verlegen – doch während laute Musik, Zigarettenrauch und viel Coca-Cola auf einer Wiese kaum jemanden gestört hätten, war dies in einem Gotteshaus ganz anders.
Werz hat gegen Ende vergangenen Jahres eine Studie über das Mess-Festival vorgelegt und nennt mehrere Gründe, die zu diesem besonderen Jugendgottesdienst geführt haben. "Das Bistum Limburg befand sich in den 1970er-Jahren im Aufbruch: Bischof Wilhelm Kempf war nach anfänglichem Zögern vom Zweiten Vatikanischen Konzil begeistert und wollte dessen Beschlüsse umsetzen", erklärt der Theologe. Dazu gehörte bei vielen Priestern auch eine große Bereitschaft zu liturgischen Experimenten. Zudem sei die Jugendpastoral in den unterschiedlichen Regionen der Diözese neu strukturiert worden. "Man wollte darauf schauen, was die Jugendlichen vor Ort gerade brauchen", so Werz. Diese "autonomen Keimzellen" seien eine Einrichtung von Kempf gewesen, mit der er auf die großen Unterschiede zwischen urban geprägten und ländlichen Pfarreien eingehen wollte. Leuninger war Jugendpfarrer im Main-Taunus-Bezirk und suchte neue Wege in der Pastoral. "Er schlug bei der Predigt etwa die Tageszeitung auf", berichtet Werz.
Leuninger machte sich für eine Rückbesinnung auf die christlichen Quellen stark. "Er wollte seiner Meinung nach, überkommene Riten abwerfen und nach einer Urform des Gottesdienstes suchen." Das Mess-Festival sei ein Versuch gewesen, das Lebensgefühl junger Menschen in der Liturgie einzufangen: "Nicht durch Rituale, sondern durch Lebensfreude, Tanz und Körperlichkeit", erläutert Werz, der den ehemaligen Jugendpfarrer kurz vor dessen Tod 2020 als Zeitzeuge für die Studie befragt hat. "Das schönste am Mess-Festival war, dass Menschen sich geküsst haben", sagte Leuninger damals, erinnert sich Werz. An den Küssen nahmen später jedoch Andere Anstoß.
Da man "die Auflösung der Unterscheidung von Heiligem und Weltlichem" ausdrücken wollte, wurde die Veranstaltung nicht nur als Gottesdienst konzipiert, sondern bewusst als Festival, erklärt der Kirchenhistoriker. Den Anfang des etwa siebenstündigen Events, das um 14 Uhr begann, machten vier christliche Jazz- und Popbands aus dem Rhein-Main-Gebiet mit Namen wie "Exodus" oder "Les Oiseaux". Sie spielten jeweils etwa 20 Minuten an verschiedenen Stellen in der Kirche und luden die umstehenden Jugendlichen zum Mitsingen und Tanzen ein. Darauf folgte eine Diskussion zu Popmusik in der Kirche. Kirchenmusiker und junge Gläubige debattierten hier darüber, ob es sich bei Sacro-Pop um eine "billige Anpassung" an den neuen Musikgeschmack handele oder doch um einen echten Ausdruck des Glaubens. "Das Bistum Limburg war zur damaligen Zeit eine Hochburg neuer Kirchenmusik und die Veranstaltung in Hofheim das erste Sacro-Pop-Festival überhaupt", weiß Werz.
Danach waren wieder die Bands dran: Sie gaben mehrere Stücke aus ihrem Repertoire zum Besten und trugen anschließend Sprachmotetten zu Themen wie Fest, Gemeinschaft und Gottesdienst vor. Avantgardistisch ging es auch im nun beginnenden Gottesdienst weiter: Das Evangelium von der Brotvermehrung wurde gleich viermal vorgetragen – in den drei Versionen der Synoptiker und des Johannesevangeliums. Auf diese Weise habe man die Pluralität der biblischen Überlieferung ausdrücken wollen. "Das war ein großer Wirrwarr, denn alle vier Texte wurden gleichzeitig vorgelesen", so Werz. Schließlich bat ein Festivalbesucher Leuninger darum, ein Evangelium noch einmal hören zu können, um akustisch überhaupt etwas verstehen zu können. Der Jugendpfarrer las die Perikope aus dem Markusevangelium vor.
"Alles ist Gottesdienst, auch das Wurstessen"
Auch bei der Eucharistiefeier war das Mess-Festival anders als gewohnt. Leuninger zelebrierte im Straßenanzug, um die Einheit von Welt und Kirche auszudrücken. Zur Gabenbereitung wurden nicht nur der Kelch mit Wein und runden Weißbrotscheiben auf den Altar und um ihn herumgestellt, sondern auch Getränke und Speisen für das anschließende Agape-Mahl. Der Jugendpfarrer sprach ein eigens für das Festival formuliertes Hochgebet, in dem er mit den Themen Solidarität und Frieden Punkte ansprach, die den Jugendlichen besonders wichtig waren. Danach kreisten die Körbe mit dem konsekrierten Brot unter den Teilnehmern und die Messe ging später in ein gemeinschaftliches Abendpicknick über, bei dem viele Teilnehmer hungrig nach Würstchen griffen – schließlich hatte zu diesem Zeitpunkt das Festival schon mehrere Stunden gedauert und an den Kräften der Jugendlichen gezehrt. "Alles ist Gottesdienst, auch das Wurstessen", kommentierte Leuninger diese Szenen im Gespräch mit Werz. Die Musik der Bands begleitete den Rest des Abends und motivierte die Jugendlichen zum ausgelassenen Feiern. Gegen 20 Uhr stellte der Küster den Strom in der Kirche aus und das Festival musste sich auflösen.
Die Stimmung des Events wurde laut Zeitzeugen als gelöst und frei wahrgenommen, auch wenn das "Bewusstsein für die Heiligkeit des Gottesdienstes" nicht gefehlt haben soll, beschreibt Werz. Der Pfarrer der Kirche St. Bonifatius in Hofheim scheint sich da wohl nicht so sicher gewesen zu sein, denn er trug vor Beginn des Festivals das Allerheiligste aus dem Kirchenraum in eine benachbarte Kapelle. Außerdem hatte Bischof Kempf seinen persönlichen Referenten geschickt, der ihm von dieser besonderen Jugendmesse berichten sollten, die Leuninger gemeinsam mit dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend und in zahlreichen Gesprächen mit Jugendlichen in den verschiedenen Pfarreien über mehrere Monate hinweg vorbereitet hatte. Viele der Teilnehmer lobten das Mess-Festival anschließend als besonders partizipativ und an ihren Bedürfnissen orientiert, eine Teilnehmerin sagte gegenüber Werz sogar, es sei ihr "schönster Gottesdienst gewesen".
Beim Festival waren jedoch nicht nur Befürworter der reformorientierten Ideen Leuningers anwesend. Pfarrer Hans Milch aus der benachbarten Kirchengemeinde lehnte die Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils weitgehend ab und nahm deshalb auch großen Anstoß am Mess-Festival. Milch sorgte mit einer Gruppe konservativer Kleriker dafür, dass der Jugendgottesdienst Leuningers durch zahlreiche Medienberichte überregional für Schlagzeilen sorgte und auch Monate nach dem Termin des Events noch in der Presse präsent war. Dabei skandalisierten sie das Festival bewusst, etwa durch eigens angefertigte Handzettel, in denen sie zu Beschwerden bei Bischof und Nuntius aufriefen, berichtet Werz. "Sie lenkten die einsetzenden Diskussionen weg von der Frage um die Gültigkeit der Eucharistie hin zur Empörung über eine Entweihung des Kirchenraumes." So titelte etwa auch die Bild-Zeitung: "Sie rauchten und küßten vor dem Altar." Das Mess-Festival wurde so zu einer Veranstaltung, die symbolisch für einen kirchlichen Aufbruch steht, und von konservativen Kräften als Blasphemie bekämpft wurde.
Milch, der sich Jahre später der schismatischen Bewegung von Marcel Lefèbvre anschloss und sogar Kontakte in die rechtsextreme Szene hatte, wollte Leuninger und Kempf schaden. Deshalb informierte er die vatikanische Kleruskongregation, die sich zwei Monate später beim Limburger Bischof meldete, und den päpstlichen Nuntius in Deutschland, Erzbischof Corrado Bafile. Doch Kempf stellte sich schützend vor Leuninger, der inzwischen wegen anonymen Morddrohungen sogar unter Polizeischutz stand, und regelte die Angelegenheit innerhalb seiner Diözese. Im November 1972 wurde Leuninger vom Dienst als Pfarrer abgezogen und als Referent für Ausländerseelsorge in der Bistumsverwaltung eingesetzt. Diese Tätigkeit übte er bis zum Ruhestand mit großer Leidenschaft aus und wurde zu einem Vorkämpfer der Rechte von Minderheiten. Leuninger gehörte 1976 zu den Gründern der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Zwar verbot Kempf weitere Mess-Festivals und versagte den Abdruck seiner Texte und Stellungnahmen in einer von Leuninger geplanten Publikation über die Veranstaltung, was letztlich das ganze Projekt scheitern ließ. Doch in einigen Texten der Würzburger Synode zur Jugendliturgie, die die Beschlüsse des Zweiten Vatikanums in Deutschland umsetzen sollte, finden sich laut Werz Passagen im gleichen Duktus wie beim Festival. "Das zeigt, dass die Erfahrungen des Festivals bis auf die gesamtdeutsche Ebene gewirkt haben", schlussfolgert Werz. Die Vorfälle rund um das Festival, so der Theologe, würden das Verhältnis von Vatikan und für Reformen offenen Bistümern bis in die Gegenwart hinein prägen. Vor allem weitere Konflikte und Skandale im Bistum Limburg würden sich von diesem Ereignis und seinen Folgen her neu verstehen und interpretieren lassen.
Buch-Hinweis: Das Hofheimer Mess-Festival 1971
Die Studie von Joachim Werz trägt den Titel "Das Hofheimer Mess-Festival 1971. Ein Erinnerungsort für das Bistum Limburg". Das 480 Seiten umfassende Werk ist im Oktober 2021 im Aschendorff-Verlag in Münster erschienen und kostet 29 Euro.