Kirchenhistoriker Ernesti blickt auf 150 Jahre Diplomatie des Heiligen Stuhls

Vatikanische Außenpolitik: Die Macht der päpstlichen Worte

Veröffentlicht am 17.02.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Augsburg ‐ Divisionen hat der Papst keine. Dennoch ist der Heilige Stuhl ein wichtiger Akteur der Weltpolitik. Der Kirchenhistoriker Jörg Ernesti analysiert in einem neuen Buch die vatikanische Außenpolitik der vergangenen 150 Jahre – und zeigt auf, welche Akzente die jeweiligen Päpste setzten. Ein Gastbeitrag.

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Nach dem Zeugnis von Winston Churchill soll Stalin einmal höhnisch gefragt haben: "Wie viele Divisionen hat der Papst?" Der sowjetische Diktator wollte damit zum Ausdruck bringen, dass ein Papst weder militärische Macht noch wirtschaftliches Gewicht hat. Michael Gorbatschow, ein später Amtsnachfolger Stalins, wusste es besser: Johannes Paul II. habe einen erheblichen Beitrag zum Fall des Eisernen Vorhangs geleistet. Eine Dokumentation des amerikanischen Senders CNN stand 2018 unter dem Titel "Pope – The most powerful man in history".

Obwohl er nur Staatsoberhaupt eines der kleinsten Staaten der Welt ist, nicht größer als 62 Fußballplätze, ist der Papst heute unbestreitbar ein wichtiger Akteur der internationalen Politik. 184 Botschafter sind derzeit im Vatikan akkreditiert, kaum ein Staat der Welt unterhält so viele diplomatische Beziehungen zu anderen Nationen. Der Heilige Stuhl hat Beobachterstatus bei der EU, bei den Vereinten Nationen und ihren Sonderorganisationen. Er tritt immer wieder als Vermittler in internationalen Konflikten auf.

"Politischer Arm" der katholischen Weltkirche

Aber wer macht eigentlich die päpstliche Außenpolitik? In diesem Zusammenhang ist eine auf den ersten Blick spitzfindige, aber wichtige Unterscheidung zu treffen. Politischer Akteur auf der internationalen Bühne ist nicht der Papst als Staatsoberhaupt des "Staates der Vatikanstadt" (so der offizielle Name des Zwergstaates seit 1929), auch nicht der Pontifex als Kirchenführer, sondern der Heilige Stuhl. Dieser Begriff meint den Papst als Führungsspitze der katholischen Kirche, einschließlich der ihm zugeordneten kirchlichen Zentralbehörden. In gewissem Sinne ist der Heilige Stuhl der "politische Arm" der katholischen Weltkirche, der diese nach außen hin vertritt. Staatsrechtler sprechen von einer Völkerrechtssubjektivität, die dem Heiligen Stuhl zukommt. Das politische Tagesgeschäft wird dabei im Wesentlichen durch das vatikanische Staatssekretariat erledigt. Alle auswärtigen Diplomaten sind beim Heiligen Stuhl akkreditiert, nicht beim Vatikanstaat. Nuntien und Beobachter bei internationalen Organisationen werden vom Heiligen Stuhl entsandt. Das führt zu der kuriosen Situation, dass die Vatikanstadt wohl der einzige Staat der Welt ist, der zu keinem anderen Staat diplomatische Beziehungen unterhält. Als vollgültiger Staat kann er natürlich auch internationale Verträge schließen. Dies tut er aber nur in technischen Fragen wie dem Postwesen. Humanitären, kulturellen und politischen Abkommen tritt dagegen der Heilige Stuhl bei.

Man kann die weltpolitische Rolle der Päpste nicht verstehen, wenn man nicht in die Geschichte zurückschaut. Besonders relevant sind hier die letzten 150 Jahre. Bis zum Untergang des alten Kirchenstaates im Jahr 1870 waren die Päpste als Landesherren in die europäischen Konflikte involviert. In den folgenden sechs Jahrzehnten ohne eigenes Territorium konnte sich dagegen etwas Neues entwickeln. Leo XIII. etablierte den Heiligen Stuhl als Vermittler in internationalen Konflikten, zum Beispiel zwischen dem Deutschen Reich unter Reichskanzler Bismarck und dem Königreich Spanien. Der Einsatz gegen die Sklaverei und für die Arbeiterschaft trugen zum Prestige des Papsttums bei. Das politische Erbe dieses Papstes wurde vom Weltkriegspapst Benedikt XV. weiterentwickelt. Dieser wahrte strenge Neutralität gegenüber allen Kriegsparteien, verurteilte den Krieg als "unnützes Blutvergießen" und organisierte humanitäre Aktivitäten (zum Beispiel einen Vermisstensuchdienst). Kaum bekannt ist sein Protest gegen den Genozid an den Armeniern. Seine berühmte Friedensnote vom 1. August 1917 war ein wohlvorbereiteter, aber erfolgloser Versuch, den Krieg zu beenden.

Bild: ©IZM (Archivbild)

Die Päpste Leo XIII., Benedikt XV. und Pius XI. auf den Titelseiten alter Zeitungen. Nach dem Ende des Kirchenstaats im Jahr 1870 positionierte sich das Papsttum auf internationaler Ebene neu und nahm in Konflikten oft eine Vermittlerrolle ein.

Das auf diese Weise gesteigerte Ansehen des Papsttums konnte Benedikts Nachfolger Pius XI. in zahlreiche internationale Verträge ummünzen. Durch diese sogenannten Konkordate, die zwischen der Regierung eines Landes und dem Heiligen Stuhl geschlossen werden, sollte die Rechtsposition der Kirche gestärkt werden. Von besonderer Bedeutung waren die Lateranverträge, die 1929 mit dem Königreich Italien geschlossen wurden. Um die politische Unabhängigkeit des Papsttums zu gewährleisten, sahen sie die Gründung eines neuen Kirchenstaates vor, der aber bis heute auf eine enge Zusammenarbeit mit dem italienischen Staat angewiesen ist. Das Reichskonkordat von 1933 hat die Nazizeit überlebt und gilt in den wesentlichen Bestimmungen bis heute.

Wenn man über vatikanische Außenpolitik im 20. Jahrhundert spricht, kommt man an der Person Eugenio Pacellis nicht vorbei. Sein Metier war die Diplomatie. Als Nuntius in München und Berlin, als Kardinalstaatssekretär unter Pius XI. und als Papst Pius XII. sollte er über vier Jahrzehnte die Außenpolitik des Vatikans mitgestalten. Über seine Friedensbemühungen, seine Aktionen zum Schutz verfolgter Personen und sein vermeintliches "Schweigen" gegenüber dem Holocaust ist viel geschrieben worden. Weniger bekannt ist, dass er in seinen Ansprachen den Gedanken der Völkergemeinschaft stark gemacht und den Beitrag der Christen zum Gelingen der Demokratie bedacht hat.

Johannes XXIII. vermittelt in Kuba-Krise

Der Pontifikat seines Nachfolgers Johannes XXIII. fällt in die Periode der Entspannungspolitik. In der Enzyklika Pacem in terris entwickelte er die Positionen seines Vorgängers weiter und machte insbesondere die Gewissens- und Religionsfreiheit stark. Der Einsatz für den Weltfrieden blieb bei ihm aber nicht nur Theorie. Während der Kubakrise im Herbst des Jahres 1962 konnte er dazu beitragen, einen Weltkrieg abzuwenden. Da sich die Staats - und Parteiführung der UdSSR durch die Stationierung von NATO-Mittelstreckenraketen in der Türkei bedroht fühlte, kam es als Gegenreaktion zur Stationierung ähnlicher Waffen auf Kuba. Weil es die USA nicht hinnehmen konnten, dass von ihrem "Hinterhof" aus das amerikanische Staatsgebiet durch sowjetische Atomwaffen bedroht würde, forderte Präsident John F. Kennedy ultimativ die Entfernung der Waffensysteme und ordnete eine Blockade der Karibikinsel an. Zugleich zeigte er sich entschlossen, einen möglichen Angriff der Sowjets zurückzuschlagen. Die Welt stand am Rand eines Atomkriegs. Johannes XXIII. sah seine Stunde gekommen, zwischen den Großmächten zu vermitteln. Am 24. Oktober 1962 verlas er im Radio einen markanten Friedensappell: "Wir flehen alle Regierenden an, vor dem Schrei der Menschheit nicht taub zu bleiben. Dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um den Frieden zu bewahren. Sie werden so die Welt vor den Schrecken eines Krieges bewahren, dessen entsetzliche Folgen niemand vorhersehen kann." Verhandlungen zwischen den beiden Mächten seien das Gebot der Stunde. Die Christen müssten nun mit ganzer Kraft um den Frieden beten, "um einen Frieden, der wahrhaftig und dauerhaft ist und der auf dem Fundament der Gerechtigkeit und Billigkeit ruht". Ungewöhnlich genug, druckte die Moskauer Parteizeitung Prawda die päpstlichen Worte ab. Damit war eine Brücke geschlagen, die jede Seite ohne Gesichtsverlust betreten konnte. Zwei Tage später erklärten die Sowjets sich zum Abzug ihrer Waffen bereit, wenn die USA ihrerseits von einer Invasion der Insel absähen.

Das Verdienst von Johannes‘ Nachfolger Paul VI. war es, den Heiligen Stuhl unumkehrbar in die Arbeit der internationalen Organisationen einzubinden. Bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gelang es 1975 sogar, die Religionsfreiheit in der Schlussakte unterzubringen. Christliche Dissidenten im Ostblock sollten sich bis zur friedlichen Revolution immer wieder auf das auch von den Kommunisten verbriefte Recht berufen.

 Jörg Ernesti
Bild: ©Christopher Beschnitt/KNA

Jörg Ernesti ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg.

Der Beitrag Johannes Pauls II. zum Umbruch im Osten wurde bereits erwähnt. Die vatikanische Diplomatie setzte sich auch stark dafür ein, den Zweiten und Dritten Golfkrieg zu verhindern. Durch die Weltfriedenstreffen in Assisi machte der Pontifex deutlich, dass von den Religionen nicht nur Konflikt-, sondern auch Friedenspotenzial ausgeht. Bei Benedikt XVI. geht man sicher nicht fehl, wenn man feststellt, dass bei ihm der Schwerpunkt weniger auf der Außenpolitik als auf theologischen und innerkirchlichen Fragen lag. 

Papst Franziskus führt das Erbe seiner Vorgänger fort. Ein wichtiger diplomatischer Erfolg war die Anbahnung von Gesprächskontakten zwischen Kuba und den USA. Mit den interreligiösen Kontakten, namentlich zu Vertretern des Islam, wandelt er in den Fußstapfen des polnischen Papstes. Besondere außenpolitische Akzente setzt er, indem er immer wieder auf die Folgen des Klimawandels und die humanitäre Katastrophe der Flüchtlinge im Mittelmeer hinweist. Man kann ohne weiteres sagen, dass Franziskus in außenpolitischer Hinsicht in einer Kontinuitätslinie zu den Päpsten des 20. Jahrhunderts steht. Dafür bürgt auch die Gestalt seines Kardinalstaatssekretärs Pietro Parolin, eines gleichermaßen diskret, loyal und effektiv wirkenden Mitarbeiters.

Einsatz für Menschenrechte

Heute setzt sich der Heilige Stuhl überall auf der Welt für die Menschenrechte ein und hat dabei nicht nur die Katholiken, sondern alle Menschen im Blick. Durch seine besondere staatsrechtliche Position ist er in der Lage, auf Augenhöhe mit den Staaten zu kommunizieren und die Arbeit der internationalen Organisationen zu beeinflussen. Keine andere Religion oder Nichtregierungsorganisation hat einen ähnlichen Status, auch nicht der Ökumenische Rat der Kirchen, der immerhin fast 350 Kirchen vertritt.

Während die Anzahl der Katholiken weltweit stagniert, wachsen Freikirchen und der Islam rasant. Der Anteil religiöser Menschen an der Weltbevölkerung nimmt zu. Bei den Vereinten Nationen ist man sich bewusst, dass der Faktor Religion an Bedeutung gewinnt. Aber der Beobachter der vatikanischen Außenpolitik fragt sich, ob die Religionen im Hinblick auf den Weltfrieden und die Menschenrechte nicht stärker mit einer einzigen Stimme sprechen müssten. Dieser Weg wurde durch die Weltfriedenstreffen vorgezeichnet.

Der Katholizismus ist heute krisengeschüttelt. In seinen einstigen Kernländern liegt die Missbrauchskrise wie Mehltau auf dem kirchlichen Leben. Wird die außenpolitische Schlagkraft des Papsttums dadurch auf Dauer gemindert? Solange ein Mann wie Papst Franziskus im Amt ist, der ein waches Gespür für die weltpolitischen Probleme hat, wird man sich in dieser Hinsicht wohl keine Sorgen machen müssen.

Von Jörg Ernesti

Buchtipp

Jörg Ernesti: Friedensmacht. Die vatikanische Außenpolitik seit 1870, Verlag Herder 2022, 368 Seiten, ISBN: 978-3-451-39199-6, 34 Euro.