Warum es keine Kirchenkrise gibt
"Man müßte die Augen schließen, um nicht zu sehen, daß sich die katholische Kirche in einer schweren Krise befindet", heißt es auf der Seite der traditionalistischen Piusbruderschaft. Ähnliche Worte kommen vom Vorsitzenden des Kölner Diözesanrats, Tim Kurzbach: "Wir befinden uns in der größten Kirchenkrise, die wir alle je erlebt haben." Kirchenpolitisch vereint die Piusbruderschaft und den Kölner Diözesanrat sicher wenig, aber sie nutzen die gleiche Vokabel: "Kirchenkrise".
Der Begriff ist allgegenwärtig, wenn es darum geht, den schwindenden Einfluss der Kirche in der Gesellschaft, steigende Austrittszahlen, Priestermangel und Kirchenschließungen zu beschreiben. Es ist nicht die erste Krise, in der sich die Kirche selbst verortet: die Reformation, die Aufklärung – alles Krisen. "Das Lebensgefühl unserer Zeit drückt sich in der Meinung aus, von einer Krise in die andere zu taumeln. Der Boden schwankt, nichts mehr ist verlässlich und sicher", schreibt der Theologe Hartmut Löwe. Aber: Stimmt das? Ist die Kirche wirklich in einer Krise?
Ein erster Schritt zur Beantwortung dieser Frage ist es, sich vor Augen zu führen, was eine Krise ist: "Eine Krise ist im Allgemeinen ein Höhepunkt oder Wendepunkt einer gefährlichen Konfliktentwicklung in einem natürlichen oder sozialen System, dem eine massive und problematische Funktionsstörung über einen gewissen Zeitraum vorausging und der eher kürzer als länger andauert", definiert Wikipedia. Eine Krise ist also ein vorübergehender Zustand, in dem sich angestaute Kräfte entladen. Wenn etwa die Parteien einer Regierung miteinander in Streit geraten und keine Entschlüsse mehr fällen können, kann eine Regierungskrise entstehen, die dann durch eine Einigung der Koalitionspartner oder Neuwahlen aufgelöst wird. Der eigentliche Krisenzustand ist also ein eher kurzer.
"Grundsätzliche Privatisierung der Religion"
Der Blick auf die Kirchengeschichte offenbart jedoch Erstaunliches: Der Theologe Hans von Soden beschreibt das Phänomen einer "grundsätzlichen Privatisierung der Religion beziehungsweise Konfession". Die Menschen gehörten der Kirche nicht mehr selbstverständlich und unwiderruflich an, sondern seien "irgendwie von der Kirche gelöst, mit ihr zerfallen, von ihr enttäuscht". Diese Feststellung werden nicht wenige als treffend für den Zustand der Kirche heute verstehen – dabei stammen diese Zeilen aus dem Jahr 1931. Von einem Zeitraum, "der eher kürzer als länger andauert", kann also nicht unbedingt die Rede sein. Es scheint um länger andauernde Prozesse zu gehen.
Mit seiner Analyse der "Privatisierung der Religion" spricht von Soden bereits einen sehr wichtigen Punkt an. Durch die Aufklärung und die Französische Revolution verliert die Kirche einen großen Teil ihrer weltlichen Macht. Die Vernunft gewinnt an Raum, vom Glauben unabhängige Argumente, die mit belegbaren Fakten arbeiten, bekommen die Oberhand.
Die Kirche war über Jahrhunderte an der Herrschaft und ahnte nun, dass es damit vorbei sein könnte, fasst es der Pastoraltheologe Rainer Bucher zusammen. Deshalb habe sie "die sozialtechnologischen Techniken und Wissensformate der Moderne zu deren Abwehr adaptiert". Entstanden sei "eine sakralisierte klerikale Bürokratie etwa, eine mit modernem Personalismus aufgeladene naturrechtliche Moraltheologie, eine Rede von Gott mit naturwissenschaftlicher Exaktheitsanmutung, jüngst eine Menschenrechtsrhetorik, die für alle anderen, aber nicht für einen selber galt. Wie sollte das gut gehen?" Die Kirche versperrt sich der Moderne.
Technisierung, Urbanisierung, Soziale Frage
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzt dann eine schnell steigende Technisierung ein, zudem konzentrieren sich die Menschen mehr und mehr in Städten. Dadurch sind sie mit der Sozialen Frage und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten konfrontiert, aber auch der Vereinzelung und der Massengesellschaft. Bislang angestammte, dörfliche Netzwerke zerreißen. Gleichzeitig deckt der wissenschaftliche Fortschritt mehr und mehr bislang als wundersam empfundene Natur- und Gesellschaftsphänomene auf. Gott hat in dieser Welt keinen unumstrittenen Platz mehr. "Die Technik und ihre Hervorbringungen erinnern an den, der sie erfunden hat: den Menschen", so Löwe. "Wo sie die Natur und ihre Rhythmen verstellen, bleibt der fern und verborgen, den die Kirche im ersten Artikel ihres Glaubensbekenntnisses Schöpfer nennt." Arbeit mit der Natur, Hungersnöte, die Abhängigkeit von Naturphänomenen – all das nimmt ab. "Die Satten kennen nicht das Glück, genug zu essen zu haben", schreibt Löwe. Das Gebet um die gute Ernte verliert an Verständlichkeit.
Allein das Umfeld des Menschen stellt die Gottesfrage also im Alltag deutlich seltener als vorher – und wenn, dann in anderen Zusammenhängen. Weiterhin denken die Menschen, von der Aufklärung ermutigt, mehr und mehr selbst. Es beginnt das Phänomen der Individualisierung: Es kommt weniger darauf an, Autoritäten zu folgen als vielmehr sich selbst zu verwirklichen. Von Kanzeln gepredigte Glaubenswahrheiten werden nicht mehr so selbstverständlich hingenommen.
Die Kirche hat es versäumt, diese geänderte Situation der Menschen wahrzunehmen und sich den neuen Themen, neuen Lebenslagen, religiösen Einstellungen und Glaubenswegen produktiv zu widmen. "Sie blockiert sich selbst durch ihr unverständliches, dogmatisch verkrustetes Sprechen von Gott, durch ein verkümmertes Gottesbild, durch wiederholtes Zitieren ihrer eigenen Zitate und das Beharren auf das einmal Definierte. Damit stößt sie auf Unverständnis, ohne zu begreifen, warum sie nicht verstanden wird", bringt es der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach auf den Punkt. "Wenn die Außenseite der kirchlichen Strukturen die spirituelle Innenseite verdunkelt, löscht sie in sich selbst die Spuren Gottes."
Kontakt zwischen Menschen und Kirche reißt ab
Das sorgt dafür, dass der Kontakt der Kirche zu den Menschen mehr und mehr abreißt – auch wenn diese durchaus noch ein spirituelles Bewusstsein haben. "Viele kirchliche Aussagen sind für einen Großteil der fragenden Bevölkerung einfach nicht mehr relevant, ihre aktuellen Anliegen werden dagegen, wenn überhaupt, nicht im Sinne des Evangeliums als Botschaft der Liebe und Barmherzigkeit adressiert", so der Autor Thomas von Mitschke-Collande. Auch der Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz beklagt: Die Kirche kümmere sich zu wenig um das Leid und zu viel um die Sünden der Menschen. Er fordert von der Kirche, sich statt um Sexualität lieber um Besitzfragen, Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen, Umgang mit fremdem Leid und der Liebe als Feindesliebe zu kümmern.
Die Situation, in der sich die Kirche gegenwärtig befindet, ist also keinesfalls jene eines krisenhaften Übergangs. Sie ist auf gesellschaftliche Veränderungen zu wenig eingegangen und hat zu lange versucht, Konzepte von gestern auf die Probleme von heute anzuwenden. Das gilt übrigens nicht nur für die katholische Kirche, die evangelische hat die gleichen Probleme. Das Reden von der "Kirchenkrise" greift also zu kurz. Sicher, fehlender gesellschaftlicher Rückhalt wegen der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen kann als "Krise" beschrieben werden – doch es handelt sich dann nicht um eine Kirchen-, sondern eine Missbrauchs(aufarbeitungs)krise.
Das Problem der Kirche in der Verkündigung reicht theologisch tiefer und historisch deutlich weiter zurück, als es der Blick auf die Gegenwart erscheinen lässt. Wenn die Kirche die Menschen des 21. Jahrhunderts mit der Frohen Botschaft noch erreichen möchte, muss sie ihre Themen, ihren Blick auf den Menschen und ihre Sprache einschneidend ändern.