Francis X. Murphy: Der Maulwurf des Zweiten Vatikanischen Konzils
Rom, im Oktober 1962: Die Bischöfe waren gerade in der Ewigen Stadt eingetroffen. Und noch bevor das Zweite Vatikanische Konzil begonnen hatte, brach der erste Skandal los: In der US-amerikanischen Zeitschrift "The New Yorker" war ein Artikel mit dem Titel "Briefe aus dem Vatikan" erschienen, der ausführlich über das zukünftige Konzil, seine Voraussetzungen und die Machtkämpfe in der Kurie berichtete. Als Autor zeichnete ein gewisser Xavier Rynne, der offensichtlich über exzellentes Hintergrundwissen verfügte. Alle fragten sich: Wer ist Xavier Rynne?
Die US-Bischöfe waren empört. Sie schickten Mitarbeiter los, um in der Via Veneto alle Exemplare des "New Yorkers" aufzukaufen. Als das nicht ausreichte, ließen sie weitere Ausgaben des Heftes per Luftpost aus Amerika einfliegen. Zwar wussten sie nach der Lektüre immer noch nicht, wer Xavier Rynne ist, aber sie richteten ein Pressebüro für die englischsprachigen Journalisten ein.
Offen über Vorgänge berichtet
Hinter dem Pseudonym verbarg sich der US-amerikanische Redemptoristenpater Francis Xavier Murphy, der am 11. April 2002, vor 20 Jahren starb. Er hatte seinen zweiten Vornamen Xavier mit dem Mädchennamen seiner Mutter – Rynne – kombiniert.
Der 1914 geborene Theologe lebte seit 1959 in Rom und beschäftigte sich intensiv mit der Patristik, also der Wissenschaft rund um die Zeit der Kirchenväter zwischen dem ersten und achten Jahrhundert. Er unterrichtete an der Päpstlichen Lateranuniversität und war als interessierter und aufmerksamer Zeitzeuge aufgeschlossen für die Vorgänge um das Konzil. Sein erster "Brief aus dem Vatikan", dem im Laufe der Zusammenkunft noch viele weitere folgen sollten, sorgte deswegen für Aufsehen, weil er offen über die Vorgänge in Rom berichtete und damit so manchen offiziellen Äußerungen widersprach.
Auskunftsfreudig und meinungsstark inszenierte Francis Murphy alias Xavier Rynne das Zweite Vatikanische Konzil als epische Schlacht zwischen Konservativen und Progressiven um den Aufbruch der Kirche in die heutige Zeit. Da er als peritus (Gelehrter) Zugang zu den Sitzungen des Konzils hatte, gab er in seinen Briefen aus dem Vatikan trotz des Gebotes der Geheimhaltung kurze intelligente Zusammenfassungen der Diskussionen. Vor allem seine Darstellungen der Personen blieben haften.
Als Maulwurf des Konzils schuf Murphy Öffentlichkeit für das Treffen. Die Artikelserie "Briefe aus dem Vatikan" wurden unter dem gleichen Titel sehr erfolgreich als Buch aufgelegt und in viele Sprachen übersetzt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat den Redemptoristen nachhaltig geprägt, er veröffentlichte in Folge noch zahlreiche weitere Bücher zu dem Thema. Jetzt, fast 60 Jahre nach dem kirchlichen Großereignis, sind seine Bücher immer noch lesenswert. Sie vermitteln spürbar den Enthusiasmus und die Aufbruchsstimmung, die damals das Konzil und die Teilnehmer bestimmte.
Auch Murphy habe das Fenster geöffnet
Wer war Xavier Rynne? Das blieb ein nur schlecht gehütetes Geheimnis. Man vermutete schon früh den Redemptoristen Murphy hinter dem Pseudonym, konnte es aber nicht exakt nachweisen. Im Nachruf des Ordens auf den Mitbruder hieß es, er habe pro Woche seine zweite Existenz häufiger verleugnen müssen als Petrus Jesus in seinem ganzen Leben. Schon im Herbst 1964 lüftete das Wochenmagazin "Der Spiegel" in einem Artikel mit der vielsagenden Überschrift "Vater, erzähle" das Pseudonym.
Nach dem Ende des Konzils 1965 ging Murphy zurück in die USA, um dort an verschiedenen Universitäten zu unterrichten. Er starb hochbetagt nach langer Krankheit im April 2002. Die Würdigung seines Orden war wohlwollend: So wie Xavier Rynne Papst Johannes XXIII. dafür verehrt habe, dass dieser das Konzil einberufen habe, um das Fenster zu öffnen, damit frische Luft hereingelassen würde, so habe Francis Murphy das Fenster geöffnet, um die moderne Welt sehen zu lassen, wie die Kirche funktioniere.