Warum der Vatikan die Wissenschaft ignoriert
Die Kirche und die Wissenschaft – diese Beziehung war und ist nicht immer spannungsfrei. Nikolaus Kopernikus zeigt 1543, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Zentrum des Planetensystems steht. Die Kirche (übrigens nicht nur die katholische) antwortet mit Ablehnung. Erst 1757 hebt sie ihren Bann gegen Werke mit heliozentrischem Weltbild auf. Die Evolutionstheorie veröffentlicht Charles Darwin 1859, die Kirche gibt aber erst 1996 zu, dass die "mehr als eine Hypothese" ist.
Diese Grabenkämpfe sind heute ausgefochten, auf der Ebene der Naturwissenschaften hat die Kirche den Forschenden in vielen Gebieten das Feld überlassen. Das heißt aber keineswegs, dass Kirche und Wissenschaft heute immer im Gleichschritt gingen – die Auseinandersetzung hat sich vielmehr verlagert.
Heute stehen stattdessen eher die Humanwissenschaften im Fokus: die Gender-Forschung, Geschlechterrollen und -identitäten, die Bewertung nicht-heterosexueller Partnerschaften oder die Familienbilder. All diese Felder sind für das kirchliche Lehramt im Vatikan relevant, denn sie betreffen unter anderem das kirchliche Bild vom Menschen, die im Katechismus niedergeschriebene Lehre der Kirche sowie Zugangsvoraussetzungen für eine Ehe oder die Priesterweihe.
Verweigerungshaltung des Vatikan
Auch wenn sich der Vatikan auf den ersten Blick diskursoffen gibt, scheint letztlich doch eine Verweigerungshaltung mit Blick auf die Rezeption der aktuellen Forschung durch. Als Beispiel kann ein Blick in das Papier "Als Mann und Frau schuf er sie" der vatikanischen Bildungskongregation aus dem Jahr 2019 dienen, das laut eigener Aussage einen "Weg des Dialogs zur Gender-Frage im Bildungswesen" beschreiten will. Doch findet dieser anschließend nicht statt. Von den 68 Fußnoten des 28-Seiten-Papiers entfallen die meisten auf Zitationen auf Papst Franziskus (20), gefolgt von Dokumenten der vatikanischen Bildungskongregation (17), Äußerungen Johannes Pauls II. (11) und Schriften des Zweiten Vatikanischen Konzils (7). Die humanwissenschaftliche Forschung wird dagegen nicht rezipiert. "Zwar hat der Vatikan eine Akademie der Wissenschaften und die internationale Theologenkommission, die beide auf dem Stand der Wissenschaft sind und denen renommierte Wissenschaftler und Theologen angehören. Das Lehramt rezipiert sie aber oft zu wenig oder wie hier gar nicht", urteilt der Brixener Moraltheologe Martin M. Lintner.
Die Kirche argumentiert mit Blick auf die menschliche Sexualität mit einem sogenannten Naturrecht, laut dem jedem Menschen nach seinem Chromosomensatz (XX für weiblich, XY für männlich) ein eindeutiges Geschlecht zugeordnet ist, das er zu leben hat: männlich oder weiblich. Diese beiden Geschlechter verwirklichen sich dann in einer monogamen Ehe zwischen einer Frau und einem Mann: "Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, muß seine Geschlechtlichkeit anerkennen und annehmen. Die leibliche, moralische und geistige Verschiedenheit und gegenseitige Ergänzung sind auf die Güter der Ehe und auf die Entfaltung des Familienlebens hingeordnet." (KKK 2333) In der Theorie bedeutet das: Transidente Menschen darf es laut kirchlicher Lehre eigentlich nicht geben. In der Praxis können sie weder eine Ehe eingehen noch Priester werden.
Das passt allerdings nicht zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen der vergangenen Jahrzehnte, wonach Geschlechtlichkeit aus mehr besteht als der vom Lehramt behaupteten Dualität: So gibt es etwa Menschen mit einem nicht-binären Chromosomensatz, zum Beispiel XXY. Geschlechtlichkeit kann aber ebenso vom Hormonhaushalt oder den Genitalien bestimmt werden – und auch da gibt es jeweils mehr als nur eindeutige Frauen und Männer. Zudem gibt es neben dem biologischen Geschlecht (engl: sex) das soziale Geschlecht (engl.: gender), das ebenfalls die Identität eines Individuums beeinflusst.
Kein Einzug in kirchliche Lehre
All die Erkenntnisse haben bislang keinen Einzug in die kirchliche Lehre gefunden. "Die Kirche hat sich da in eine diskriminierende und Menschenrechtsstandards unterlaufende religiöse Identitätspolitik hineinmanövriert, aus der man jetzt nicht mehr elegant und kostenlos herauskommt", resümiert der Tübinger Pastoraltheologe Michael Schüßler. Das habe auch Folgen für die Gläubigen. Menschen fänden in den Vorgaben der Kirche keine Erlösung mehr, so Schüßler.
Katholiken halten sich deshalb oft einfach nicht mehr an die Vorgaben des Lehramts, sei es im Hinblick auf Sex vor der Ehe, Verhütung oder Homosexualität. Das ist für die Kirche ein Problem. Denn sie übt etwas aus, das der Philosoph Michel Foucault als "Pastoralmacht" bezeichnet: Die Hirten wollen ihre Schäfchen durch jeden Bereich des Lebens führen, ihre Lehre umfasst alle Aspekte des Lebens. Jede neue wissenschaftliche Erkenntnis oder auch neues Gesellschaftskonzept stellt dieses Gedankengebäude der Kirche infrage, bedeutet also einen Machtverlust. Die Angst vor einem Machtverlust kann die Beharrungskräfte des Lehramts im Hinblick auf Fragen der Sexualität erklären: Auf vielen anderen Feldern hat die Kirche ihre Interpretationsmacht bereits eingebüßt.
Hinter der Verweigerungshaltung der Kirche vermutet die Salzburger Theologin Marlis Gielen auch viel Angst: "Keiner will der sein, der etwas verändert, auch wenn es möglich wäre. Viele haben Angst, dass sie die Kontrolle verlieren." Für Gielen ist das jedoch ein Zeichen von Unglauben. "Die Kirchenleitenden scheinen davon auszugehen, dass der Fortbestand der Kirche nur durch statische Konservierung möglich ist. Aber jeder weiß: Die Haltbarkeit des Inhalts einer Konservenbüchse ist begrenzt und dann kann damit niemand mehr etwas anfangen." Die Kirche gebe es seit 2000 Jahren, in denen sie sich immer wieder in Treue zu einer als lebendig verstandenen Tradition verändert habe. Für Gielen ein Zeichen, dass sie auch mit etwas mehr Mut überleben werde.
Abwehr gilt auch der Theologie
Die Abwehr vonseiten des Lehramts gilt aber nicht nur der Humanwissenschaft, sondern auch der glaubenseigenen Wissenschaft: der Theologie. So hat es zu den Themen Zölibat und Diakoninnen in den vergangenen Jahrzehnten neue Erkenntnisse gegeben – etwa die, dass es viele Jahrhunderte lang verheiratete Priester gab und dass es in der frühen Kirche Diakoninnen gegeben hat, wenn auch deren genaue Ausgestaltung nicht mehr ganz nachvollzogen werden kann. Doch lehramtliche Papiere nehmen diese Erkenntnisse nicht auf.
Das war nicht immer so. Laut Thomas von Aquin sollte sich die Wissenschaft mit den (An-)Fragen an den Glauben auseinandersetzen und die Lehre fortentwickeln, die Bischöfe dagegen den Glauben verkünden und leben. Nach den Erschütterungen der Französischen Revolution eignen sich die Bischöfe im 19. Jahrhundert dann aber auch die Verfügungsgewalt über die Weiterentwicklung der Lehre an. Im Zuge der Diskussion um die päpstliche Unfehlbarkeit beim Ersten Vatikanischen Konzil (1870/71) führt der Rottenburger Bischof Carl Joseph von Hefele als Gegenargument an, dass es mit Honorius im 7. Jahrhundert einen Papst gegeben habe, der später sogar als Häretiker verurteilt wurde. Der Kardinal von Westminster, Henry Edward Manning, antwortet darauf kurz und knapp: "Das Dogma muss die Geschichte besiegen."
Diese ablehnende Haltung scheinbar unliebsamer wissenschaftlicher Erkenntnisse gilt für das vatikanische Lehramt, jedoch nicht zwingend für die gesamte Kirche. Unter anderem der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck mahnte im vergangenen Dezember, es sei eine wichtige Aufgabe, in der hochkomplexen digitalen wie globalen Welt "Menschen der Vernunft" zu bleiben, "die den Blick für die Weite und das Segensreiche der Wissenschaften behalten". Auch der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf weiß von einem für ihn einschneidenden Erlebnis zu berichten, das beweist, wie es anders laufen könnte. So sei er vor der Amazonas-Synode von brasilianischen Bischöfen gefragt worden, ob verheiratete Priester einen Bruch mit der Tradition darstellen würden. Wolf und andere Wissenschaftler wurden dazu in ein kleines Kloster am Stadtrand Roms geladen, es wurde diskutiert – und am Ende gab es für die sogenannten "viri probati" bei der Synode 2019 eine Zweidrittelmehrheit. Der Papst ließ das Thema in seinem Abschlussdokument jedoch aus.
Austausch mit Wissenschaft kann Kirche dienlich sein
Der Austausch mit der Wissenschaft könne der Kirche dienlich sein, sagt Wolf. "Niemand will eine Professorenkirche, aber ein regelmäßiger Austausch mit dem Papst auf Augenhöhe würde allen helfen. Hier haben wir noch viel Potential, das noch nicht genutzt wird." Als Beispiel nennt er das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65). Damals prägen einige junge Theologen – darunter ein gewisser Joseph Ratzinger – die Bischöfe, weil sie mit ihnen theologisch diskutieren und sie zum Nachdenken anregen.
Lintner ist deshalb vorsichtig optimistisch: "Nach 30 bis 50 Jahren ändert sich der Ton und Dinge werden möglich, die es vorher nicht waren." Er verweist auf die Auseinandersetzungen um künstliche Verhütung in der Kirche der 1960er Jahre. In der Vehemenz stünden die damaligen Diskussionen den heutigen Auseinandersetzungen zum Thema Gender nicht nach. Die offizielle Lehre der Kirche zur Empfängnisverhütung habe sich bis heute auch nicht geändert, der Ton und die Argumentation aber schon. "Das kann ein Zeichen sein, dass sich da in der Zukunft etwas ändern wird", so Lintner. Das könne auch bei anderen Themen funktionieren. Er empfiehlt Gelassenheit: "Nicht aufgeben, sondern auf Zeit und Einsicht hoffen. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die sich erhärten, werden längerfristig seitens der Theologie und schließlich auch des Lehramtes rezipiert werden, auch dann, wenn sie radikale Anfragen an eigene Positionen bedeuten."