Geflügelte Worte zum Kulturkampf

Vor 150 Jahren: Als Bismarck nicht nach Canossa gehen wollte

Veröffentlicht am 14.05.2022 um 12:30 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Canossa – das war für viele Deutsche im 19. Jahrhundert ein Symbol für päpstliche Arroganz und nationale Schmach. Vor 150 Jahren wütete Bismarck deshalb: Nach Canossa gehen wir nicht. Ein Ausspruch, der eine große Wucht hatte. Ein Blick zurück.

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Es gibt Orte wie Berlin oder New York, deren Bedeutung man nicht erklären muss. Und dann gibt es Orte, die eine große Bedeutung nur auf geistigen Landkarten haben. Städte wie Sodom und Gomorrha oder die böhmischen Dörfer. Auch die Burg von Canossa, am Rand des Apennins zwischen Bologna und Parma gelegen, hat es zu sprichwörtlicher Berühmtheit gebracht.

Canossa steht für zwei wichtige Ereignisse der deutschen Geschichte. Wer Näheres wissen will, kann Bad Harzburg im Harzvorland besuchen. Dort ragt ein 19 Meter hoher Obelisk auf dem Burgberg auf. 1877 erbaut, erinnert er an den trotzigen Ausspruch des damaligen Reichskanzlers Otto von Bismarck, der am 14. Mai 1872, vor 150 Jahren, im Berliner Reichstag den katholischen Abgeordneten des Zentrums entgegenschleuderte: "Seien Sie außer Sorge, nach Canossa gehen wir nicht – weder körperlich noch geistig."

Einfluss des Papstes sollte eingedämmt werden

Doch was hatte Bismarck mit Canossa zu tun? Im 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreich tobte ein Kulturkampf. Bismarck versuchte mit allen Mitteln, den Einfluss des Papstes und der katholischen Kirche einzudämmen. Als der Vatikan 1872 den deutschen Gesandten, Kurienkardinal Gustav Adolf zu Hohenlohe-Schillingsfürst, ablehnte, weil er die Unfehlbarkeit des Papstes anzweifelte, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung im Reichstag. Und der Reichskanzler zeigte mit dem Canossa-Ausspruch, dass er gegenüber dem Papst keinen Zentimeter zurückweichen wolle.

Die Granitsäule von Bad Harzburg zeigt dabei auch, welchen Brückenschlag in die deutsche Vergangenheit Bismarck mit seinem geflügelten Wort tat. Denn in Canossa gipfelte im Jahr 1077 der Streit um die Vorherrschaft zwischen Papst Gregor VII. und dem deutschen König Heinrich IV. – dem Gründer der Harzburg. Es war ein Machtkampf zwischen geistlicher und weltlicher Herrschaft, dessen Ausgang Europas Geschichte bis heute beeinflusst.

Bild: ©picture-alliance / akg-images (Archivbild)

Eine Holzstichkarikatur zum Kulturkampf aus dem "Kladderadatsch" (1875): Bismarck und Papst Pius IX. spielen Schach.

Der Streit drehte sich unter anderem darum, wem die Besetzung von Bistümern zustand. Dahinter verbarg sich die Frage, wem in der Machthierarchie des Mittelalters der Vortritt gehören würde. Am 25. Januar 1077 zog Heinrich IV. historischen Quellen zufolge barfuß und im Gewand des Büßers vor die Burg von Canossa, in der sich Papst Gregor VII. aufhielt, um ihn um die Aufhebung des Kirchenbanns zu bitten. Drei Tage musste der König ausharren, bis ihn der Papst schließlich von seinem Bann erlöste. Die Redewendung "in Sack und Asche gehen" wird auf dieses historische Ereignis zurückgeführt, da Heinrich sein Bitten um Aufhebung der Acht auch durch sein äußerlich demutsvolles Auftreten unterstrichen haben soll.

Dieser Bußgang nach Canossa blieb als (scheinbare) Niederlage der weltlichen Macht noch jahrhundertelang im Bewusstsein der Deutschen lebendig. Seit der Reformation diente die Erzählung den Protestanten als Beweis für die tyrannische Herrschaft und die Anmaßung des Papstes. Für die deutsche Nationalbewegung im 19. Jahrhundert galt Canossa als Schmach und nationales Trauma. Aus diesem Grund hatte Bismarcks Ausspruch solch große Wucht.

Dualismus zwischen weltlicher und geistlicher Macht

Allerdings: Wie die Geschehnisse im Mittelalter endete auch der sogenannte Kulturkampf im 19. Jahrhundert nicht mit dem eindeutigen Sieg einer der Parteien, sondern mit einem Kompromiss. Das Papsttum konnte im Mittelalter seinen absoluten Machtanspruch gegenüber den weltlichen Herrschern nicht durchsetzen; es entwickelte sich ein Dualismus zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Canossa gilt als Beginn der modernen Trennung von Staat und Kirche.

Auch Bismarck schaffte es nicht, den Katholizismus in Deutschland in seinen Grundfesten zu erschüttern. Im Gegenteil: Sein Kulturkampf schweißte die Katholiken zusammen. Seit 1878 ruderte der Reichskanzler zurück und zeigte sich bereit, sich mit den Katholiken zu arrangieren.

2012 versuchte zudem der Mittelalter-Historiker Johannes Fried, die Ereignisse von Canossa als Mythos zu entlarven: In Wirklichkeit hätten Heinrich IV. und Gregor VII. dort 1077 ein Bündnis geschlossen, das eine enge Zusammenarbeit zwischen Kirche und Herrscher neu begründen sollte. Demnach war Canossa also alles andere als ein demütigender Bußgang.

Von Christoph Arens (KNA)