Vor 150 Jahren erließ Bismarck das Jesuitengesetz
"Nach Canossa gehen wir nicht!" – Legendär ist der Ausruf des damaligen Reichskanzlers Otto von Bismarck aus der Reichstagssitzung am 14. Mai 1872. Kein Text über den Kulturkampf zwischen protestantisch-preußischem Kaisertum und der römisch-katholischen Kirche im Deutschen Reich kommt ohne das Credo des "Eisernen Kanzlers" aus. Canossa, diese Burg in Oberitalien, wo sich der Überlieferung zufolge Kaiser Heinrich IV. im Jahr 1077 vor Papst Gregor VII. niederwarf und dem römisch-deutschen Kaisertum einen irreparablen Schaden zufügte – das dürfe sich nicht wiederholen.
Niemand sollte als Bittsteller über die Alpen ziehen. Denn jenseits der Berge – auf lateinisch "ultra montes" – saß der Feind, der Papst und die römische Kurie, übernationale und gesellschaftszersetzende Kräfte aus Sicht der nationalstaatsorientierten Eliten des 19. Jahrhunderts. Der Ultramontanismus als bedingungslose Romtreue und der Höherbewertung der päpstlichen über die staatlichen Interessen wurde zum Kampfbegriff gegen den politischen Katholizismus. In Polemiken wurde Angst geschürt vor weltweiten konspirativen Netzwerken, die versuchten, Rom nördlich der Alpen wieder mehr Einfluss zu verschaffen.
Dabei geriet insbesondere der Jesuitenorden ins Visier. Das ist wenig verwunderlich, lud doch schon die Konstitution der Gesellschaft Jesu, die neben Armut, Keuschheit und Gehorsam noch ein viertes Gelübde vorsah, nämlich das des umfassenden Gehorsams gegenüber dem Papst, antirömische Kräfte zum Misstrauen ein. Hinzu kamen die Mitgliederstärke des Ordens, seine Gewohnheit, sich gerade an katholische Königshäuser anzubinden sowie nicht zuletzt die Wahrnehmung der Jesuiten als "Schlaue Jungs" – gerissen und gefährlich. Fertig war das Feindbild, das sich exzellent dazu eignete, antikirchliche Ressentiments wirksam zu verbreiten.
Das "Gesetz, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu"
Die Jesuiten führten im Reich Bildungseinrichtungen und Seminarhäuser, wo sie auch ihren eigenen Nachwuchs ausbildeten. Das taten sie freilich aber schon länger. Im Kulturkampf kam nun allerdings ihre ureigene Papsttreue dazu, die im Kulturkampf insbesondere nach der Verkündigung des päpstlichen Unfehlbarkeitsdogma von 1870, die – obwohl auch unter katholischen Priestern umstritten – von den Jesuiten vertreten wurde.
Am 4. Juli 1872 setzte der Reichstag dem schließlich ein Ende: Das "Gesetz, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu" verbannte den "Orden der Gesellschaft Jesu und die ihm verwandten Orden und ordensähnlichen Kongregationen" vom Gebiet des Deutschen Reiches. Die Errichtung von Niederlassungen wurde ihnen strengstens untersagt. Zudem wurde die Regierung bemächtigt, einzelne Jesuiten aus dem Reich ausweisen zu dürfen, sofern es sich um ausländische Ordensmitglieder handelte. Deutschstämmigen Jesuiten durfte zumindest "der Aufenthalt in bestimmten Bezirken oder Orten versagt oder angewiesen werden".
Neben dem ebenfalls gegen die katholische Kirche gerichteten Kanzelparagrafen, der Geistlichen in der Kanzel politische Stellungnahmen untersagte, gehörte das Jesuitengesetz zu den wenigen Gesetzen, die auf gesamter Reichsebene Gültigkeit besaßen.
Großkonflikt zwischen Staat und Kirche: Reichsgründung und Kulturkampf
Kaum hatte Bismarck das Deutsche Reich geschmiedet, brach er den Konflikt mit der katholischen Kirche vom Zaun. Es war ein erbittert geführter Kampf um die Rolle der Religion im modernen Staat. Katholiken trugen traumatische Erinnerungen davon.
Tatsächlich war die endgültige Fassung, über die der Reichstag am 19. Juli abgestimmt hatte, auch einigen liberalen Abgeordneten, die ansonsten durchaus bereit waren, Bismarcks Linie des Kulturkampfes zu folgen, zu radikal. So schrieb der Nationalliberale Karl Biedermann an seinen Kollegen Eduard Lasker – ein Intimfeind des Reichskanzlers – er empfinde den Erlass als "eine so unselige Maßregel als nur möglich". Das Gesetz verstoße direkt gegen das Freizügigkeitsgesetz. "Es ist ein Ausnahmegesetz im allerschlimmsten Sinne", urteilte Biedermann, der sich gezwungen sah, gegen den Entwurf zu stimmen, "wie ich denn auch glaube, daß meine Wähler (denen gegen die Jesuiten das Ärgste nicht arg genug ist) mir es schwerlich danken werden".
Behörden und öffentliche Stellen setzten das Gesetz in der Folge strickt durch. Ordenshäuser wurden geschlossen, Katholiken, die bei den Jesuiten zur Messe oder Beichte kommen wollten, wurden unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt.
Für die Jesuiten selbst kam es einem Déjà-Vu gleich: Bereits in der Aufklärung hatte es insbesondere in den romanischen Königreichen scharfe Auseinandersetzungen um die Tätigkeit und insbesondere die Papsttreue des Ordens gegeben. Nacheinander wurden sie aus Portugal, Frankreich, Spanien und Neapel ausgewiesen und zwischen 1773 und 1814 auf päpstliches Geheiß sogar vollständig aufgehoben.
Rom blieb dem Orden dieses Mal gewogen
Wie bereits bei der damaligen Aufhebung reagierte der Orden pragmatisch auf das Verbot: Die Ausbildung der Novizen wurde in andere Länder verlegt, zwangsexilierte Mitglieder gingen in die Mission, auch bis nach Afrika und Südamerika. Im Gegensatz zur Aufhebung 1773 blieb Rom dem Orden dieses Mal gewogen; immerhin war der Gegner nun nicht die katholisch-bourbonischen Königshäuser, sondern das preußisch-protestantische Kaisertum.
Auch der gewünschte Bruch des politischen Katholizismus konnte dadurch nicht erreicht werden. Vielmehr stärkte die Unterdrückung im Kulturkampf den Zusammenhalt im Milieu.
Wie alle Jesuitenverbote, sollte auch das bismarck'sche Gesetz jedoch nicht von Dauer sein. Mitten im Tumult des Ersten Weltkriegs entschied der Reichstag, es zum 19. April vollständig außer Kraft zu setzen. Insbesondere dürfte ein Entgegenkommen in Richtung der katholischen Zentrumspartei ausschlaggebend gewesen sein, ohne deren Unterstützung die Regierungsbildung in den turbulenten Zeiten faktisch unmöglich geworden war.