Pfarrer Michael Pflaum erklärt, was Missbrauchsbetroffenen helfen kann

Priester: Kirchenverantwortliche brauchen Traumatherapie-Kenntnisse

Veröffentlicht am 13.08.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Als Seelsorger hat Pfarrer Michael Pflaum Missbrauchsbetroffene begleitet. Für den Erlangener Dekan war das auch der Auslöser dafür, sich mit Traumatherapien auseinanderzusetzen. Im katholisch.de-Interview erklärt er unter anderem, ob das Verzeihen im Heilungsprozess eine Rolle spielt.

  • Teilen:

Die Empfehlung, Missbrauchsbetroffene sollten den Tätern verzeihen, ist aus Sicht von Dekan Michael Pflaum ein "Schlag ins Gesicht" der Betroffenen. Im katholisch.de-Interview erklärt er, warum solche Worte wie Gift wirken können, was bei der Heilung hilft und warum Bischöfe, Generalvikare und Personalverantwortliche Grundkenntnisse in der Traumatherapie besitzen sollten.

Frage: Herr Dekan, wie ordnen Sie den Fall um den ehemaligen Limburger Regens Christof May ein?

Pflaum: Es ist schwer, die Situation von außen zu deuten, ohne dass es Missverständnisse hervorruft oder sich jemand verletzt fühlen könnte. Daher sage ich vorsichtig: Hier hat ein Mensch für sich keinen anderen Ausweg gefunden und den Freitod gewählt. Für die, die ihn geliebt und geschätzt haben, ist das eine Katastrophe. Es ist immer ein großer Verlust, wenn sich ein Mensch dazu entscheidet, freiwillig in den Tod zu gehen. Jeder Mensch ist wertvoll. Und gleichzeitig ist es eine andere Ebene, wie wir im öffentlichen Diskurs über das Thema reden. Es gibt auch Betroffene, die aufgrund ihres schweren Traumas auch den Freitod wählten. Aber sie bleiben unbekannt, weil über sie in den Medien nicht berichtet wird. Das ist eine Schieflage.

Frage: Wie sehen Sie die Situation für die Betroffenen nun, da nun derjenige tot ist, der sich mutmaßlich übergriffig verhalten hat?

Pflaum: Der Limburger Bischof Georg Bätzing hat in einer Pressemitteilung mitgeteilt, dass es jetzt "keine endgültige Klarheit mehr geben könne, weil der Verstorbene nicht mehr befragt werden kann." Viele Fragen würden deshalb offen bleiben. Mit einer traumatisierten Person, die ich jahrelang begleitet habe, habe ich über diese Aussage des Bischofs gesprochen. Sie war verärgert und hat zu mir gesagt: "Wird den Betroffenen wieder nicht geglaubt? Wenn der Regens den Freitod wählt, ist das doch auch eine Art Aussage, dass er Schuld auf sich geladen hat!" Zwar haben wir den Rechtsgrundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Aber die Betroffenen sollte man unbedingt ernst nehmen. Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn hat der Missbrauchsbetroffenen Doris Reisinger öffentlich gesagt: "Ich glaube Ihnen". Es ist wichtig, dass ein Vertreter der Institution Kirche sagt: Wir glauben Ihnen." Wenn der Kardinal ihre Aussagen allerdings kleingeredet oder gar zurückgewiesen hätte, dann hätte er sie möglicherweise erneut traumatisiert.

Hilfe bei Selbsttötungsgedanken

Sollten Sie selbst oder Menschen in Ihrem Umfeld Selbsttötungsgedanken haben, wenden Sie sich unter 0800-1110111 oder 0800-1110222 umgehend an die kostenlose Telefonseelsorge. Dort erhalten Sie Hilfe.

Auf der Webseite der Telefonseelsorge finden Sie auch Kontaktmöglichkeiten über Chat und E-Mail.

Frage: Hätte es einem Betroffenen im Fall Limburg genügt, wenn es vor dem Tod noch eine Entschuldigung gegeben hätte?

Pflaum: Es ist eine Überforderung für einen Betroffenen, wenn er auf den Täter zugehen, ihm seine Leiden beschreiben und dann eine Entschuldigung einfordern müsste. Nein, so geht das nicht. Denn so ein Trauma, wenn es durch mehrmaligen Missbrauch verursacht wurde, wird oft jahrzehntelang verdrängt und kommt erst spät ins Bewusstsein der betroffenen Person. Viele beginnen dann auch mit Selbstverletzungen oder verfallen in Drogen- oder Alkoholsucht. Die Betroffenen finden oft erst sehr spät in ihrem Leben heraus, warum sie so leiden. Es macht schon viel aus, wie ein kirchlicher Vertreter in der Öffentlichkeit über so einen Fall spricht. Kardinal Schönborn hat sich bei Frau Reisinger entschuldigt. Sie hat diese Entschuldigung nicht vom Täter gebraucht.

Frage: Reicht es nicht aus, wenn Betroffene über ihr Leiden reden?

Pflaum: Nein, bei tiefsitzenden Wunden hilft eine Rede-Kur nicht weiter. Das hat die Traumatherapie längst herausgefunden. Wenn nur darüber geredet wird, können die Opfer immer wieder in Flashbacks, Dissoziation und Erstarrung zurückfallen. Das hat keinen heilenden Effekt. Diese Menschen brauchen eine tiefergehende Traumatherapie.

Frage: Also brauchen die Betroffenen keine Entschuldigung vom Täter?

Pflaum: Nein. Die Heilung muss auf einer viel grundsätzlicheren Ebene stattfinden, dazu braucht es den Täter oder seine Entschuldigung nicht. Das Entscheidende in der Traumabewältigung muss auf körperlicher und geistiger Ebene passieren. Nach einem Trauma werden in einem Menschen alle Flucht- und Kampfimpulse blockiert. Das Opfer kann weder flüchten noch weglaufen, es erstarrt. Diese angestauten Energien können, wenn sie sich nicht zeigen dürfen, im Betroffenen verdrängt werden. Trotzdem brechen sie immer wieder durch die Oberfläche. Das ruft posttraumatische Symptome wie Erstarrung und Kontrollverlust hervor, die mit Abwehrmechanismen wie körperlicher Selbstverletzung oder Drogensucht beantwortet werden. Deswegen ist der Heilungsprozess auch so langwierig. Eine Traumatherapie beschäftigt sich mit genau diesen blockierten Energien, die sich dann in posttraumatischen Reaktionen des Körpers und des Geistes äußern. Wenn die Betroffenen keinen guten Therapeuten finden oder kein einfühlsames Umfeld haben, das heilsam auf sie wirkt, können sie jahrzehntelang an den Folgen eines Traumas leiden.

Bild: ©Privat

Der katholische Dekan Michael Pflaum vermisst die Expertise der Traumatherapeuten im Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche.

Frage: Begleiten Sie selbst als Seelsorger Betroffene?

Pflaum: Ja, ich habe vor 16 Jahren eine von sexuellem Missbrauch betroffene Person kennen gelernt und weil sie sonst keinen Beistand hatte, half ich ihr seelsorgerisch. Damals war das auch der Auslöser für mich, mich intensiver mit dem Thema der Traumabewältigung zu beschäftigen.

Frage: Welche Methode setzen Sie ein, um ein Trauma zu heilen?

Pflaum: Ich habe festgestellt, dass kontemplative Übungen und Traumatherapien sehr viele Ähnlichkeiten haben. Menschen, die trotz des Missbrauchs religiös und gläubig geblieben sind, kann dieser Weg helfen, das Trauma zu verarbeiten. Für die Heilung braucht es einen sicheren Ort, von dem aus sich die betroffene Person den traumatischen inneren Wunden nähern kann. Erst dann können diese tiefen Erstarrungen heilen. Die Jüngerregel Jesu beschreibt die wichtigsten Elemente einer Traumatherapie: "Wer mein Jünger sein will, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach." Dieser sichere Ort, in dem man sich verankert, ist nach der Jüngerregel die Christus-Nachfolge. Konkret kann dies etwa ein Gebet sein, die bewusste Atmung oder ein imaginierter sicherer Ort. Ich empfehle gerne dazu das kontemplative Jesusgebet, bei dem man immer wieder den Namen Jesus Christus oder den Satz wiederholt: "Jesus Christus, erbarme dich meiner". Und dann kann man Schritt für Schritt sich den Wunden nähern. Das bedeutet: "Sein Kreuz auf sich zu nehmen". Stück für Stück lässt man dann die verwundeten Teile aus sich heraus. Wichtig ist dabei nur, dass man sich nicht von den dunklen Erinnerungen überschwemmen lässt. Darauf muss der Begleiter besonders achten. Durch diese Verarbeitung können dann Körper und Seele heilen. Allerdings nur, soweit es möglich ist. Wenn jemand geistlichen Missbrauch erlebt hat, mag das vielleicht nicht hilfreich sein. Ich habe aber gut Erfahrungen damit gemacht.

Blick durch eine leicht geöffnete Kirchentür auf ein Kruzifix
Bild: ©KNA/Harald Oppitz

"Wer mein Jünger sein will, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach." Diese Jüngerregel Jesu beschreibe die wichtigsten Elemente einer Traumatherapie, sagt Dekan Pflaum.

Frage: Wäre es dabei nicht für einen Betroffenen auch hilfreich zu sagen: "Ich verzeihe dem Täter"?

Pflaum: Nein. Und gerade wenn ein Priester oder sonst ein Seelsorger einem Betroffenen empfiehlt: "Sie sollten dem Täter verzeihen". Dann ist das wie ein Schlag ins Gesicht. Solche Sätze wirken wie Gift, denn damit wird suggeriert: Heilung geschieht allein durch das Verzeihen und ansonsten braucht man nichts zu tun. Das ist nicht richtig. So wird das Trauma erneut verdrängt, auch strukturell! So ein Verhalten verhindert, dass der Täter zur Rechenschaft gezogen wird und auch davon abgehalten wird, weitere Taten zu begehen. Wenn einem Betroffenen suggeriert wird, er habe es durch das Verzeihen in der Hand, die Tat zu verarbeiten, dann ist das unverschämt. Bei jedem anderen Verbrechen gibt es ein bestimmtes Vorgehen, das hier übersprungen werden soll. Stellen Sie sich doch vor: Jemand beschädigt Ihr Auto. Niemand würde Ihnen dann sagen: "Verzeihen Sie dem Unfallverursacher doch!" Nein, es heißt dann normalerweise: Der soll den Schaden bezahlen und wenn er mein Eigentum massiv und absichtlich beschädigt hat, dann muss er dafür sogar ins Gefängnis, oder nicht?

Wenn ein Missbrauchsbetroffener sich über Jahre selbst verletzt oder depressiv ist, Drogen nimmt und keiner Arbeit nachgehen kann, dann ist das ein Riesenelend, das er da mit sich herumschleppt. Das alles kann bei schwerem Missbrauch die Summe seiner posttraumatisierten Belastungen sein. Beim beschädigten Auto geht es nur um einen Blechschaden. Beim Menschen geht es um Lebensqualitätsausfälle, die nicht mehr gut zu machen sind. Das soll man alles überspringen mit einem Satz "Ich verzeihe Dir"? Vielleicht steht das Verzeihen am Ende eines Heilungsprozesses. Ich denke da an Marilyn van Derbur. Sie wurde 1958 Miss Amerika und war die erste Frau, die sexuellen Missbrauch öffentlich thematisiert hat. Ihr Vater hatte sie als Kind jahrelang missbraucht. In ihrem Buch schreibt sie, dass sie ihrem Vater nicht verzeihen kann, weil sie sonst ihr eigenes Ehrgefühl missachten würde.

Frage: Was empfehlen Sie daher kirchlichen Vertretern im Umgang mit Missbrauchsbetroffenen?

Pflaum: Wir haben in allen Diözesen Präventionskonzepte und es gibt Beschwerdestellen und gute Interventionsstrukturen. Da ist schon viel passiert. Aber wenn es das Grundanliegen des Synodalen Weges ist, in der ganzen Tiefe die Missbrauchskrise ernst zu nehmen und Pastoral und Kirchenstrukturen zu hinterfragen, dann frage ich mich schon, warum die ganze deutsche katholische Theologie seit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals in der Kirche keinen interdisziplinären Austausch mit Traumatheorien begonnen hat. Ich bin fest davon überzeugt, dass Bischöfe, Generalvikare und Personalverantwortliche, die mit Betroffenen von sexuellem Missbrauch sprechen, ein Grundwissen in Traumatherapie brauchen. Dann erst kann man nachvollziehen, was eine Traumatisierung bedeuten kann und warum viele Betroffene ihr Leben deshalb nicht mehr geregelt bekommen. Nicht jeder Pfarrer muss ein Traumatherapeut werden, aber es geht darum, dass wir uns ein Grundwissen aneignen. Wenn wir aus der Missbrauchskrise der Kirche herauskommen und einen heilenden Weg in die Zukunft gehen wollen, dann brauchen wir eine traumaexistentiale Theologie. Und zwar deshalb, weil ein Trauma – und das ist sexueller Missbrauch – die ganze Existenz eines Menschen betrifft. Ich sage also noch einmal: Die Kirche und ihre Vertreter müssen sich mit Traumatherapien beschäftigen. Denn das wäre eine Bereicherung in vielerlei Hinsicht, weil sie unser Menschenbild korrigiert, sensibler im Seelsorgegespräch macht und den Blick schärft für verletzende Strukturen.

Von Madeleine Spendier

"Für eine trauma-existentiale Theologie" von Michael Pflaum

Das Buch "Für eine trauma-existentiale Theologie. Missbrauch und Kirche mit Traumatherapien betrachtet" von Dekan Michael Pflaum umfasst 372 Seiten. Es kostet 13,99 Euro.