Das Problem mit der Verantwortung: Man muss sie übernehmen!
Die Missbrauchskrise bestimmt auch im zwölften Jahr nach den Veröffentlichungen aus dem Canisius-Kolleg die Agenda der katholischen Kirche. Anfang September tagt in Frankfurt erneut die Synodalversammlung. Beim Synodalen Weg sollen weitere, wichtige Schritte gegangen werden, um die systemischen Ursachen des Missbrauchs zu bekämpfen. Darüber hinaus liegen immer mehr diözesane Missbrauchsanalysen vor. Sie zeichnen fundiert und detailreich das Bild einer Täterorganisation namens katholische Kirche. Mit den noch zu erwartenden Ergebnissen laufender Studien, aber auch der Arbeit der diözesanen Aufarbeitungskommissionen, werden zusätzliche Facetten und Schattierungen in dieses Bild eingefügt.
So wichtig, alternativlos und zwingend die Themen in Synodalversammlung und Synodalforen, so schonungslos die Problemdarstellung aus den Studien sind, scheint der Schlüssel zu einer wirklichen Umkehr, zu einer wirklichen Lösung der Krise in einem viel grundsätzlicheren Thema zu liegen: An der Übernahme von Verantwortung – denn genau daran fehlt es!
So weitet beispielsweise der Historiker Thomas Großbölting und sein Forscher:innenteam der Universität Münster in der Missbrauchsstudie für das Bistum Münster den Verantwortungsbegriff: Nicht nur Kleriker und Leitungsverantwortliche sind als Täter, Vertuscher und Strafvereitler im Amt für die Missbrauchskrise verantwortlich. Der Klerikalismus der Basis, die Bystander, also Laien vor Ort, die von Taten und Opfern wussten, aber schwiegen und bewusst wegsahen. Auch sie tragen Verantwortung im und für den Missbrauch. Durch ihr Verhalten, oder besser Nichtverhalten, haben sie wesentlich zum Fundament einer täterfreundlichen Organisation beigetragen, in der sich die Täter vor Strafverfolgung und Restriktion sicher sein konnten. Die Münsteraner Studie weitet also den Verantwortungsraum, aber nur wenige Menschen in den Gemeinden und katholischen Verbänden nehmen diese eigene Verantwortung wahr. Die zwingend notwendige eigene Aufarbeitung bleibt aus. Dabei stehen hier nicht solche Verbände im Fokus, von denen ein oberflächlicher Umgang mit der eigenen Missbrauchsgeschichte hinlänglich bekannt. Hier geht es insbesondere um die großen Personalverbände, von der Ortsebene bis zu den Bundesverbänden. Leider ist zu konstatieren: Die Verantwortung ist eindeutig beschrieben – nur scheint sie keiner übernehmen zu wollen!
Zunehmend isoliert
Vor wenigen Tagen wurde eine Analyse über die deutsche Fidei-Donum-Koordinationsstelle durch die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) und das Hilfswerk Adveniat veröffentlicht. Unter Nutzung institutioneller Strukturen und Organisationen sowie von persönlichen Netzwerken haben Bischöfe bekannte Missbrauchstäter durch Entsendung nach Südamerika den deutschen Strafverfolgungsbehörden vorsätzlich entzogen. Ein solches geplantes und gezieltes Vorgehen ist letztlich Ausdruck erheblicher krimineller Energie der handelnden Personen und macht die Täterorganisation Kirche zusätzlich zu einem Ort organisierter Kriminalität. Diese zusätzliche Dimension bedingt letztlich auch eine deutliche Ausweitung der institutionellen Verantwortung, die von den heutigen Bischöfe zu übernehmen ist. Aber deutlich wird die Übernahme dieser institutionelle Verantwortung den Betroffenen gegenüber nicht.
Seit Jahren wird über die Anerkennung des Leids diskutiert. Das aktuelle Anerkennungssystem ist von Betroffenen bereits vor seiner Umsetzung im Januar 2021 als mangelhaft in Verfahren und Leistungen kritisiert worden. Mittlerweile hat leider die Realität die geäußerte Kritik eindeutig bestätigt. Nun ist eine erste Klage auf Schadensersatz über 725.000 Euro bei einem deutschen Zivilgericht anhängig und es steht zu erwarten, dass weitere Klagen folgen. Solche Klagen sind schlicht Ausdruck dafür, dass die katholische Kirche in Deutschland bis heute nicht in der Lage ist, ein dem erlittenen Leid und der institutionellen Verantwortung Rechnung tragendes Anerkennungssystem umzusetzen. Anstatt die vielfach geäußerte Kritik wahr- und die auf dem Tisch liegenden Gestaltungsvorschläge aufzunehmen, beharren die Bischofskonferenz und ihr Sekretariat darauf, dass man der institutionellen Verantwortung allein schon durch das Anerkennungssystem nachkommen würde – und das trotz der bekannten Systemmängel. Dass Bischöfe und Verantwortliche des Sekretariats sich mit dieser Position zunehmend isolieren, zeigen auch Reaktionen der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) auf die aktuell eingereichte Klage. Nun ist eine Vorhersage, wie dieser Prozess ausgehen wird, nahezu unmöglich. Klar ist aber schon jetzt: Eine wirkliche, befriedigende und befriedende Übernahme institutioneller Verantwortung würde eine solche Klage überflüssig machen!
Insbesondere in den letzten Tagen ist aber auch deutlich geworden: Verantwortung wird leider dort ebenso konkret wie konsequent übernommen, wo es um den Schutz der Institution und ihrer Würdenträger geht. Da werden eigene Ressourcen mobilisiert, da werden unter hohem Aufwand externe Berater hinzugezogen, Strategien entwickelt und versucht, unabhängige Berichterstatter auf die eigene Seite zu ziehen und zu vereinnahmen. Selbst die erneute und fortgesetzte Schädigung von Missbrauchsbetroffenen wird dafür bewusst in Kauf genommen. Durch dieses Vorgehen wird nicht nur der einzelnen Diözese, sondern auch der ganzen katholische Kirche als Institution und Gemeinschaft der Gläubigen erheblicher Schaden zugefügt. So darf die Übernahme von Verantwortung für eine gelingende Zukunft unserer Kirche sicher nicht aussehen!
Synodaler Weg muss sich an seinem Ziel messen lassen
Die kommende Synodalversammlung steht vor einer großen Herausforderung: Der Synodale Weg ist aus dem Missbrauch und der Initiative der Deutschen Bischofskonferenz entstanden mit dem Ziel, die systemischen Ursachen von sexualisierter Gewalt und Missbrauch zu bekämpfen. Alle Mitglieder der Versammlung werden sich genau an diesem Ziel messen lassen müssen: Führen die Beschlüsse und die damit intendierten Veränderungen dazu, dass unsere Kirche zu einem sicheren Ort ohne Missbrauch und sexualisierte Gewalt wird, oder dienen die Ergebnisse eher allgemeinen kirchenpolitischen Zielen oder Partikularinteressen?
Diese Messlatte gilt für alle in der Synodalversammlung: Für Bischöfe und Laien, professionelle Theologen, haupt- und ehrenamtlich Engagierte. Sie gilt aber insbesondere auch für die Teile der Synodalversammlung, die nach der jüngsten Attacke aus dem vatikanischen Staatssekretariat ein ergebnisloses Ende des Synodalen Wegs herbeisehnen. Auch sie werden an den genannten Parametern gemessen. Scheitert der Synodale Weg, wird also das Ziel der Verhinderung von Missbrauch und sexualisierter Gewalt an seinen Wurzeln nicht erreicht, bleibt am Ende die eine Frage: Wer wird dann bereit sein, die Verantwortung dafür zu übernehmen? Wer wird erklären, dass in unsere Kirche weiterhin Menschen Opfer von sexualisiertem und geistlichem Missbrauch werden können, weil wir nicht in der Lage sind, die systemischen Ursachen zu bekämpfen?
Es lässt sich – leider – die Antwort schon erahnen: keiner!
Insofern empfiehlt es sich für alle Mitglieder der Synodalversammlung, weniger in den sozialen Medien das vermeintlich andere Lage in teilweise diffamierender und respektloser Art und Weise anzugehen, sondern sich in den kommenden Wochen an das Ziel des Synodalen Wegs zu erinnern und das vor Augen zu haben: die Verantwortung den tausenden Opfern, Betroffenen, Überlebenden des Missbrauchs gegenüber und die Kirche zu einem sicheren Ort zu machen.
Zur Person
Johannes Norpoth ist Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz. Der Beirat besteht aus zwölf Personen, die von sexualisierter Gewalt und Missbrauch im Zuständigkeitsbereich der katholischen Kirche betroffen sind. Die Mitglieder wurden im Herbst 2020 durch den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz für eine dreijährige Amtszeit berufen.