Philosoph Otfried Höffe plädiert im Gastbeitrag für gegenseitige Wertschätzung

Wie weit sind Staat und Religion tatsächlich getrennt?

Veröffentlicht am 21.01.2023 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Tübingen ‐ Die Kirchenmitglieder in Deutschland werden immer weniger – und dennoch ist Religion aus der Politik wie Öffentlichkeit nicht wegzudenken. Wie lässt sich das Verhältnis von Kirche und Staat bestimmen? In seinem Gastbeitrag berichtet der Philosoph Otfried Höffe von einer gegenseitigen Verbundenheit.

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Eine Antwort auf die Titelfrage beginnt mit einer kaum strittigen Vorbemerkung: Staat und Religion sind für unterschiedliche Welten verantwortlich und trotzdem überschneiden sich ihre Tätigkeiten. Die eine Seite, der Staat, in unseren Breiten die konstitutionelle Demokratie, ist – freilich nur in Grenzen – für das Diesseits und das weltliche Wohlergehen zuständig, die andere Seite, die Religion, hingegen für das Jenseits und die ewige Glückseligkeit.

Wegen der trotzdem existierenden Überschneidungen müssen sich beide Seiten ihr Verhältnis zueinander überlegen. Das Entscheidungsvorrecht, das der Staat wegen seiner politischen Souveränität hier beansprucht, hat bekanntlich zu höchst unterschiedlichen Gestalten geführt hat. Das eine Extrem bildet wie in der französischen laicité die strenge Trennung von Staat und Religion, das andere Extrem jene im Staatskirchentum praktizierte enge Bindung: In England steht der Monarch – für einen Demokraten: erfreulicherweise mehr symbolisch – an der Spitze sowohl des Staates als auch der anglikanischer (Staats-)Kirche.

In Deutschland herrscht nun eine mittlere Position vor: Es gibt zwei Parteien, die sich als "christlich" bezeichnen. Allerdings fehlt auf der Ebene der Europäischen Union diese Qualifikation. Die "Europäische Volkspartei" (EVP) besteht zwar mehrheitlich aus Christdemokraten. Überdies waren die Gründergestalten der Europa-Idee, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi und Robert Schuman, bekennende Christen, des näheren Katholiken. Trotzdem verzichtet die Fraktionsgemeinschaft auf den Anspruch des Christlichen.

Entfremdung von Kirche und Partei

Auch in den sich noch "christlich" verstehenden Parteien ist diese Qualifikation immer wieder umstritten, so dass man sich fragen darf: Wann wird sie tatsächlich gestrichen? Ohnehin entgeht aufmerksamen Beobachtern nicht der Umstand, dass die Spitzen der einen christlichen Konfession in Deutschland, die der EKD, seit langem sich nicht nur mit einer anderen Partei mehr verbunden fühlen. Sie sind auch deren Mitglieder und lassen nicht etwa um einer Amtsneutralität willen während der Amtszeit ihre Parteimitgliedschaft ruhen.

Setzen wir den Blick auf die staatliche Präsenz der Religionsgemeinschaften fort: Vor allem auf christlicher, aber auch auf jüdischer, jedoch noch kaum auf islamischer Seite gibt es, in "ökumenischer Verbundenheit" konfessionell getrennt, große und zweifellos segensreich wirkende Wohlfahrtsverbände und von den Kirchen betriebene Krankenhäuser, Senioren- und Pflegeheime, Pflegestationen und vieles mehr. Und nicht nur innerhalb des eigenen Landes, sondern auch in anderen Kontinenten wird Notleidenden geholfen, wobei die Kirchen im Unterschied zu den staatlichen Stellen in der Regel weit enger vor Ort vernetzt sind. Auch im Bildungsbereich sind die Kirchen vielfältig tätig, etwa mit Kitas, Kindergärten, Schulen und Internaten, mit Hochschulden, Studentenheimen, Akademien und Hochbegabtenstiftungen. Ferner darf man an den Gedanken der Subsidiarität erinnern. Er stammt aus der Christlichen Soziallehre und wurde von CDU-CSU-Seite gegen die in der Union vorherrschenden Zentralismus- und Homogenisierungstendenzen eingebracht – um sich faktisch mit einen Sonntagsreden-Einfluss begnügen zu müssen.

Bild: ©picture alliance/dpa/Horst Galuschka

Der 1943 im heutigen Głubczyce (damals Leobschütz, Oberschlesien) geborene Otfried Höffe studierte Philosophie, Geschichte, Theologie und Soziologie in Münster, Tübingen, Saarbrücken und München. Er lehrte in Duisburg, Fribourg und Zürich. 1994 gründete er die Forschungsstelle für Politische Philosophie an der Universität Tübingen, wo er bis zu seiner Pensionierung 2011 auch als Professor für Philosophie tätig war.

Ein anderes Schnittfeld von Staat und Religionsgemeinschaften ist weder verfassungsrechtlich noch verfassungspolitisch unbedenklich: der Anspruch einiger Kirchenmitglieder, das Institut des Kirchenasyls wiederzubeleben. Schon vor dem Christentum bestand es in den Fällen in einer Flucht unter die Obhut des Göttlichen, wo hinsichtlich höchster Not vonseiten der weltlichen Instanzen keine Gerechtigkeit zu erwarten war. Im Zeitalter der Aufklärung und fortschreitender Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit wurde jedoch dieses Rechtsinstitut außerhalb des Rechts zugunsten rein rechtsstaatlicher Mittel aufgehoben: Seit langem praktizieren wegen ihres umfassenden Souveränitätsanspruchs die modernen Demokratien de facto ein Monopol auf die Gewährung eines Asyls. Und dieses Exklusivrecht kommt ihnen auch legitimerweise zu. Denn mit den verfassungsrechtlich verankerten Grund- und Menschenrechten, mit dem vielerorts wie im deutschen Grundgesetz, hier im Artikel 16a, für "politisch Verfolgte" positivrechtlich anerkannten Asylrecht und mit einer unabhängigen, zudem mehrstufig aufgebauten Justiz darf man die Obhut des Göttlichen für in einer konstitutionellen Demokratie gegenstandslos halten. Dass es immer wieder Streitfälle gibt, gehört zur Eigenart der Justiz und der politischen Welt. Wenn sich nun Kirchenmitglieder das Recht nehmen, es besser zu wissen als die Entscheidungen eines schon seit langem im wesentlichen gut funktionierenden Gemeinwesens, so nehmen sie für sich ein Privileg in Anspruch, das dem Grundgedanken der konstitutionellen Demokratie, der Ablehnung aller Sonderrechte, widerspricht. Mit der etwaigen Berufung auf ein Widerstandsrecht wiederum dürfte man sich wohl verheben.

Der "Präambel-Gott"

Ein weiteres Problem stellt der sogenannte "Präambel-Gott" dar: Die Präambel des Grundgesetzes setzt mit der Berufung auf die "Verantwortung vor Gott" an. Die Schweizer Bundesverfassung beginnt sogar mit den Worten "Im Namen Gottes des Allmächtigen!" Auch in anderen Verfassungen steht gegen Anfang eine Invocatio oder Nominatio Dei. Eine derartige Berufung auf eine außerhalb der Verfassung und über ihr stehende Instanz lässt sich als Einspruch gegen die Gefahr staatlicher Hybris verstehen und dürfte zu diesem Zweck, als Absage gegen nie auszuschließende politische Allmachtsphantasien, hochwillkommen sein. Wenn man sich überdies vor Augen hält, dass im Arabischen "Allah" nichts anderes als "Gott" heißt, so ist beim "Präambel-Gott" auch keine Bevorzugung von Judentum und Christentum zu befürchten.

Trotzdem wird bei neueren Verfassungen und verfassungsähnlichen Texten der Ausdruck "Gott" "tunlichst" vermieden: Vermutlich wegen einer zur "Entchristlichung" fortgeschrittenen Säkularisierung unserer Gesellschaften haben die damals Verantwortlichen, entsprechenden Vorstößen der nicht nur deutschen Bischöfe zum Trotz, die Anrufung Gottes in die Grundrechtscharta der Europäischen Union aufzunehmen abgelehnt. Für Deutschlands Formel vom "Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott" darf man zwar zunächst erwarten, was es in der Schweiz vor einigen Jahren schon gab: sowohl eine Debatte um die Streichung der dortigen Formel "Im Namen des Gottes des Allmächtigen!" als auch die knappe Ablehnung der Streichung.

Bild: ©picture alliance / ZB / Sascha Steinach

Die Kirchensteuer wird immer wieder hinterfragt.

Weil aber in manchen Medien und in vielen meinungsführenden Kreisen eine noch stärkere Entchristlichung als in der Bevölkerung stattfindet, sollten die Kirchen sich nicht sicher sein, die Ablehnung eines "Präambel-Gottes" werde noch lange Zeit nicht mehrheitsfähig wird. Ohnehin darf man nicht vergessen, dass der Zweck, die Ablehnung staatlicher Hybris, geistesgeschichtlich gesehen – von verfolgten Minderheitenchristen – abgesehen, nicht (!) primär von Kirchen- und Theologie-Kreisen betrieben wurde. Das Prinzip der Toleranz beispielsweise musste in der Neuzeit, obwohl es dem Wesen des Christentums alles andere als fremd ist, gegen beide (!) Großkirchen erstritten werden.

Streitpunkt Kirchensteuer

Zu den immer wieder aufflammenden Streitpunkten dürfte auch die Kirchensteuer gehören. Nun lässt sich kaum leugnen, dass die Religionsgemeinschaften mit den skizzierten karitativen, sozialen und kulturellen Leistungen dem Gemeinwohl vielfältig dienen. Wer – wenn auch ungern ausgesprochen – um Steuern zu sparen aus der Kirche austritt, schadet daher dem Gemeinwohl. Infolgedessen empfiehlt sich für die Zukunft eine Regelung, die es in manchen Ländern schon gibt: Der Staat erhebe generell einen Zuschlag auf die Lohn- und Einkommenssteuer, und der Steuerpflichtige entscheide, welchen Organisationen und Institutionen der Beitrag zugute kommen soll. Die zu erwartende Folge, ein Wettbewerb unter den für den Steuerzuschlag berechtigten Organisationen, steht zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität freiheitlicher Demokratien kaum im Widerspruch.

Weil Staat und Religion trotz ihrer unterschiedlichen Leitzwecke in einer wesentlichen, man darf sogar sagen: existentiell entscheidenden Weise aufeinander angewiesen sind, wird ein kluger Staat, schon um unnötige Konflikte zu vermeiden, den Gläubigen und ihren Organisationen ein erhebliches Maß an Freiheit einräumen. Auch erkennt er den wichtigen Beitrag zum Gemeinwohl an und gewährt und gewährleistet daher selbst dort, wo er die weltanschauliche Neutralität streng laizistisch versteht, den Religionsgemeinschaften zweierlei. Zum einen lässt er ihnen das Recht, zu politisch wichtigen Themen ihre Stimme zu erheben. (Das schließt aber nicht notwendig ein, was hierzulande "mit Fleiß" geschieht: dass die Kirchen das Recht – oder besser: Privileg – erhalten, in Rundfunkräte, Ethikkommissionen und so weiter Vertreter zu entsenden.) Zum anderen erlaubt ein kluger Staat den Religionsgemeinschaften Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Akademien sowie Krankenhäuser, Seniorenstifte und Pflegeheime zu betreiben.

Eine kluge Religionsgemeinschaft wiederum weiß, dass in einer konstitutionellen Demokratie sie sich besser entfalten kann als in einem autoritären Staat. Deshalb heißt sie die Demokratie willkommen. Eine Ausnahme liegt freilich auf der Hand: Eine Religionsgemeinschaft, die auf etwas hofft, das mit dem Wesen einer Religion aber schwerlich zu vereinbaren ist, nämlich auf eine alle anderen Religionen diskriminierende politische Macht, bevorzugt statt der Demokratie eine autoritäre politische Herrschaft.

Von Otfried Höffe

Buchtipp

Otfried Höffe: "Ist Gott demokratisch? Zum Verhältnis von Demokratie und Religion", Hirzel Verlag.