Verschwörungsexperte: "Reichsbürger" nutzen christliche Elemente
Am Mittwoch fand eine der größten Razzien in der Geschichte der Bundesrepublik im Umfeld der sogenannten "Reichsbürger" statt, bei der zunächst 25 Menschen aus der Szene festgenommen wurden. Auch christliche Elemente spielen eine Rolle in dieser Gruppe, sagt der Religionswissenschaftler und Antisemitismus-Beauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg, Michael Blume, im katholisch.de-Interview. Er erklärt auch, was die Kirchen tun sollten, um gegen solche Bewegungen vorzugehen.
Frage: Herr Blume, welche Rolle spielen christliche oder allgemein religiöse Elemente in der "Reichsbürger"-Szene?
Blume: Es ist grundsätzlich so, dass Gruppen, die die Legitimität ihrer Staaten angreifen, sich dabei auch immer auf die jeweilige religiöse Tradition berufen. Das kann christlich sein, es kann aber auch muslimisch sein, oder neopagan, also quasi polytheistisch. Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Gruppen sagen: Den Staat gibt es nicht oder der Staat ist illegitim und wir vertreten die reine Wahrheit. In den jetzt bekannt gewordenen Fällen sind die Umsturzgedanken christlich-esoterisch angehaucht und das ist leider nicht überraschend.
Frage: Inwiefern?
Blume: Im Hintergrund von diesen radikalen Gruppen steht immer ein Dualismus. Sie nehmen für sich in Anspruch – und das hat auch der mutmaßliche Rädelsführer Heinrich XIII. Prinz Reuß (Titelbild) getan –, dass sie für Liebe und Frieden eintreten würden. Aber tatsächlich werden die Widersprüche, die Ängste und auch die Kritik ausgelagert im Sinne von: Das sind die Bösen, das sind die Verschwörer. Diese werden dann aus diesem Liebesbereich herausgedrängt und zu Feindbildern definiert. Dann ist es mit der Liebe nicht mehr weit her und es geht bis in Gewaltbereitschaft, die wir hier auch gesehen haben. Nach dem, was wir bisher wissen, passt das leider sehr gut in das, was ich befürchtet hatte, dass nämlich aus dem Umfeld von sogenannten "Querdenkern" Vernetzungen zu Terrororganisationen entstehen werden.
Frage: Solche christlichen Elemente sind also ein Teil, der dazu beiträgt, dass sich solche Gruppierungen wie die "Reichsbürger" radikalisieren?
Blume: Genau. Diese dualistischen Gruppen nehmen für sich in Anspruch, für das absolute Gute zu stehen und gegen das absolute Böse zu kämpfen. Dafür greifen sie auf religiöse und esoterische Versatzstücke zurück. Damit immunisieren sie sich gegen die Kritik, dass geplante Entführungen oder Ermordungen nichts mit Liebe zu tun haben. Das wird dann damit begründet, dass man zu den Guten gehöre und sich verteidige, während die anderen die Verschwörer sind, zum Beispiel die demokratisch gewählten Politikerinnen und Politiker oder die Medien. Deswegen muss man da im christlichen und im esoterischen Bereich, hier in Baden-Württemberg zum Beispiel im Bereich der Anthroposophie, kritisch hinschauen.
Frage: Spielen bei diesem Dualismus auch christliche Dokumente wie die Bibel eine Rolle oder ist das losgelöst davon und folgt einer abstrakten Idee, die einer Religion entnommen wurde?
Blume: Es ist beides: Es werden Versatzstücke genommen, zum Beispiel aus der christlichen Bibel. Aber wenn Sie an das Vaterunser denken, wo ja ausdrücklich gesagt wird "Und führe uns nicht in Versuchung", wo also Gott als die Quelle von Gutem und von Bösem ernstgenommen wird, das wird dann natürlich versteckt. Dualistische Gruppen teilen die Welt auf in einen guten Gott und einen bösen Teufel und versuchen dann gewissermaßen andere Menschengruppen wie Juden, Journalistinnen oder Politiker der bösen Seite zuzuordnen. Dazu verwenden sie zwar Versatzstücke aus der Bibel, aber sie gehen nicht in einer kritischen und aufgeklärten Form mit der Heiligen Schrift um, wie man das eigentlich von religiösen Gelehrten erwarten sollte.
Frage: Welche Rolle spielen Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen? Die große Mehrheit wird solche Umsturzmythen und die Ziele der "Reichsbürger" sicher nicht unterstützen …
Blume: Die großen Kirchen in Deutschland haben sich etwa durch den Dialog und die Auseinandersetzung mit den Wissenschaften sehr weit entwickelt. Allerdings ist es natürlich so, dass sie schrumpfen und dass sie dadurch auch einen Teil der Deutungshoheit verlieren. Wir haben sehr viele kleinere christliche Gruppen und teilweise auch Sekten – so nenne ich dualistische Gemeinschaften, die sich feindselig gegenüber der Umwelt abgrenzen –, die sich auch auf das Christentum berufen. Hier sehe ich die etablierten Kirchen eher als Verbündete, mit denen man tatsächlich gut über diese Themen arbeiten kann. Wir müssen allerdings fairerweise sagen, dass sie zumindest in den großen Städten keine Mehrheit der Bevölkerung mehr vertreten und natürlich auch christlich-esoterische Bereiche existieren, die sich wiederum gegenüber den Kirchen abschotten.
"Reichsbürger"
Als "Reichsbürger" bezeichnen sich mehrere sektenartige Gruppierungen von Rechtsextremen und Verschwörungsmystikern. Die Kernideologie ist antisemitisch, geschichtsrevisionistisch und demokratiefeindlich. Die Gruppen behaupten, dass das Grundgesetzt eine "Fortsetzung des Krieges gegen das Deutsche Reich" und die Bundesregierung ein von "den westlichen Siegermächten aufgezwungenes Statut der Fremdherrschaft über das Deutsche Volk" sei. Ziel ist die Delegitimierung der Bundesrepublik Deutschland. Viele "Reichsbürger" weigern sich Steuern zu zahlen und erkennen die deutsche Gesetzgebung nicht an.
Frage: Durch den Mitgliederverlust verlieren die Kirchen also auch die Deutungshoheit darüber, ob solche Verschwörungsgedanken etwas mit dem Christentum zu tun haben?
Blume: Genau, das ist leider so. In der klassischen Bundesrepublik des 20. Jahrhunderts war klar: Es gibt die Politik und es gibt die Kirche. Man hat das durchaus getrennt wahrgenommen, wer was macht. Jetzt fällt das alles so ein bisschen in sich zusammen: Die Kirchen schrumpfen, werden zu religiösen Minderheiten vor allem in den Städten und gleichzeitig wird von politischen Figuren verlangt, dass sie auch Sinnfragen beantworten. Das ist genau das, was Menschen wie Heinrich XIII. Prinz Reuß in Verschwörungssekten leisten. Sie bieten sich als Vertreter des absolut Guten an, die Politik, Religion und Wahrheitsfragen allesamt aus einer Person heraus beantworten könnten. Da haben Sie auch die Erklärung für diesen Größenwahn. Von außen betrachtet kann man sich fragen, wie die darauf kommen, dass sie mit dieser kleinen Gruppe die Mehrheit der Deutschen vertreten könnten. Aber innerhalb dieser Verschwörungssekten ist man davon überzeugt, die schweigende Mehrheit würde nur auf einen warten.
Frage: Man kann den Eindruck bekommen, dass solche Bewegungen wie die "Reichsbürger" aktuell vermehrt auftreten. Täuscht dieser Eindruck?
Blume: Antisemitismus und Verschwörungsglaube waren nie weg aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Aber was wir jetzt noch dazuhaben, ist auf der einen Seite die Covid-19-Pandemie. Die beängstigenden Erfahrungen mit dem Virus haben viele in eine Feindbilderzählung und einen Dualismus umgewandelt. Auf der anderen Seite ist es aufgrund von Digitalisierung und sozialen Netzwerken so einfach wie noch nie, sich in radikale Gruppen zu verlieren. Es werden also nicht mehr Menschen verschwörungsgläubig als früher. Aber die Menschen, die dorthin tendieren, radikalisieren sich schneller. Deswegen wird das wahrscheinlich nicht die letzte Terrorzelle gewesen sein, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.
Frage: Welche Möglichkeiten haben Gesellschaft und Kirchen, dagegen vorzugehen? Was sollte unternommen werden?
Blume: Im Kern geht es darum, dass wir zum einen lernen, über Ängste zu sprechen, ganz konkret etwa die Sorge vor einem kommenden Wassermangel aufgrund der Klimakrise. Das sind Ängste, die die Menschen bewegen und denen sie dann durch einen vereinfachenden Dualismus ausweichen. Da würde ich mir wünschen, dass gerade die Kirchen und Religionsgemeinschaften eine aktivere Rolle spielen und sagen: Wir sind Orte, an denen auch über Ängste gesprochen werden darf und wo wir uns damit auseinandersetzen, was das für unsere Zukunft bedeutet und wo wir gefordert sind. Wenn die Kirchen das nicht machen, werden andere Anbieter auftreten, die diese Ängste aufgreifen und verstärken. Auf der anderen Seite ist es ebenso wichtig, dass man denen, die schon im Verschwörungsglauben stecken, entgegentritt. Institutionen sollen einerseits die Menschen emotional und seelsorglich ernstnehmen und begleiten, müssen sich aber auch deutlich von Dualismus und Rechtsesoterik abgrenzen. Diese Doppelaufgabe stellt sich den Kirchen aber auch allen anderen religiösen, esoterischen und weltanschaulichen Bewegungen.