Private Begegnungen mit Ratzinger – Professor, Erzbischof und Pensionär
Joseph Ratzinger ist 1927 geboren, er war Professor in Freising, Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg. Dann wurde er Erzbischof von München und Freising, bevor er in Rom Präfekt der Glaubenskongregation und später Papst wurde. Die Einschätzungen zu Joseph Ratzingers Wirken als Theologe, Bischof und Papst sind unterschiedlich. Ähnliches zeugen auch die Erzählungen persönlicher Begegnungen mit ihm aus seiner Zeit als Emeritus, Erzbischof und Professor.
Dilson Daldoce Jr. ist Diakon in der Erzdiözese Freiburg und verbrachte einige Jahre zum Studium in Rom, dort lernte er auch den emeritieren Papst in seinem Altersruhesitz kennen:
Bei zwei Gelegenheiten durfte ich den emeritierten Papst Benedikt XVI. persönlich treffen und mit ihm reden. Beide Male war das mit einigen Mitgliedern der Schola Cantorum des Päpstlichen Collegiums des Campo Santo Teutonico. Dort wohnte ich als Seminarist. Traditionell sang eine kleine Gruppe unseres Kollegs für den emeritierten Papst bei der Feier der Darstellung des Herrn in der Kapelle des Klosters Mater Ecclesia, wo er nach seinem Rücktritt lebte. Auch bei der Messe zu seinem 92. Geburtstag durften wir dort singen. Das waren Gottesdienste, die im kleinsten Kreis gefeiert wurden und bei denen das Beten des emeritierten Heiligen Vaters auffiel. Seine Liebe zur Eucharistie spiegelte sich in seinen Augen und in seinen Gesten wider, genauso wie seine große Verehrung für die Gottesmutter.
Nach der Heiligen Messe hatten wir dann die Gelegenheit, ihn persönlich zu begrüßen. Ich war mir sicher, dass es eine kurze Begrüßung sein würde und wir direkt danach wieder gehen müssten. Ich dachte, vielleicht dürfte ich ihm die Hand küssen, dann aber schnell Platz für den Nächsten machen. Doch Papst Benedikt legte Wert darauf, mit jedem Einzelnen ein wenig zu sprechen.
Als ich an der Reihe war, sagte ich ihm meinen Namen, und er fragte mich, woher ich komme. "Aus der Erzdiözese Rio de Janeiro", sagte ich. Dort war ich damals Seminarist. Er fragte sofort: "Und wie geht es Weihbischof Romer?" Weihbischof Karl Josef Romer ist ein Schweizer Bischof und emeritierter Weihbischof von Rio de Janeiro. Heute ist er 90 Jahre alt. Mehrmals hat er mit Joseph Ratzinger zusammengearbeitet, als dieser noch Präfekt der Glaubenskongregation war. Kardinal Ratzinger war auf Einladung von Weihbischof Romer auch mehrmals nach Rio de Janeiro gereist. Ich antwortete dem emeritierten Papst, dass es ihm meines Wissens gut gehe. Daraufhin bat mich Papst Benedikt, ihm Grüße zu übermitteln. Dann fragte er mich, was ich denn in Rom studiere. Ich sagte schnell, dass ich an meinem Promotions-Projekt in Philosophie arbeite. Meine Antworten waren wirklich kurz, ich wusste, dass ich nicht viel Zeit in Anspruch nehmen konnte. Aber der Heilige Vater zeigte Interesse daran, jedem einen Moment Aufmerksamkeit zu schenken. Als ich also meine Promotion erwähnte, fragte er sofort: "Zu welchem Thema?" Und ich habe ihm geantwortet: "Ich schreibe über die philosophische Anthropologie Edith Steins." Er reagierte dann sofort: "Oh, schwierig..." Darauf wusste ich eine Antwort: "Ja, aber nicht so schwierig wie die Theologie von Joseph Ratzinger." Und alle anwesend lachten – selbst Papst Benedikt... "Nein, nein", sagte er, als er dann noch ein paar Sätze über die Bedeutung Edith Steins sagte. Das Gespräch endete mit Worten der Ermutigung und mit einem tiefen väterlichen Blick von einem, der mir sagen wollte, dass sich jede Anstrengung lohnt, dass es sich lohnt, weiterzumachen... Und so konnte sich jeder von uns bei dieser Begegnung ein wenig mit ihm unterhalten.
Papst Benedikt saß bereits im Rollstuhl und war körperlich etwas geschwächt, aber er war ganz präsent, konzentriert und zeigte Interesse an jedem von uns. Ich werde seinen tiefen und ermutigenden Blick sicher nie vergessen.
Heinrich Rudolf Bruns ist Journalist in Wasserburg und wurde vom damaligen Erzbischof Ratzinger vom "Preußen zum Bayern" gemacht:
Als ich ein kleiner Junge war, so zehn Jahre alt, besuchte der damalige Erzbischof Ratzinger die Pfarrei St. Martin in Unterwössen. Ich war mit meinen Eltern vor ein paar Jahren aus dem Rheinland nach Bayern gezogen. Vor dem Gottesdienst war das "Hallo" groß. Der Herr Erzbischof schritt zusammen mit unserem Pfarrer Franz Niegel das Spalier von uns Ministranten ab. Jeder Ministrant wurde einzeln vorgestellt. Als die Reihe an mir war, sagte Pfarrer Niegel zum Erzbischof: "Schau Josef, das ist der Heinzi, der kimmt zwar von de Preissn, ist aber einer unserer fleißigsten Ministranten."
Der Herr Pfarrer und der Erzbischof kannten sich aus ihrer Studienzeit in Freising. Deswegen duzten sie sich. Ratzinger richtete das Wort an mich, ich beantwortete seine Fragen und bediente mich dabei des besten Bairisch, das ich nach einigen Jahren im Land tatsächlich wie ein Einheimischer sprach. Die Reaktion von Ratzinger: Er zeichnete mir das Kreuzzeichen auf die Stirn und meinte, ich dürfe mich zurecht als Altbayer fühlen und bezeichnen.
Ich habe in den darauffolgenden Jahren den Kurienkardinal Ratzinger öfter beim Urlaub mit seinen Geschwistern in Unterwössen erlebt, nicht nur bei der Feier der Liturgie, sondern auch bei Freizeitaktivitäten. Für uns Ministranten war er unglaublich präsent, ein liebenswürdiger älterer Herr, der für jeden von uns ein gutes Wort übrighatte. Und Ratzinger war ein Mann der Kirche, der fest verwurzelt im bayerischen Leben stand und auch sehr, sehr bayrisch dachte und klang. Im Vergleich zu vielen heutigen "Bayern" war er jemand, der den Idealtypus verwirklichte. Das mochte eine Facette an Joseph Ratzinger gewesen sein, die vielleicht nur wenige kannten. Aber selbst bis ins Papstamt hinauf blieb er seiner Heimat und uns Menschen verbunden.
Und so sage ich heute, dass nicht nur ein großer Papst von uns gegangen ist, sondern einer der größten, wenn nicht sogar der größte und wahrhaftigste Bayer.
Prof. Karl Gabriel ist Senior-Professor am Exzellenzcluster "Religion und Politik" in Münster. Ratzinger lernte er als Professor in München kennen. Demnächst erscheint sein Buch Häutungen einer umstrittenen Institution. Zur Soziologie der katholischen Kirche. Vorab stellte er katholisch.de diese Erinnerung an Joseph Ratzinger zur Verfügung:
Theologie und Kirche erlebte ich im Tübingen des Jahres 1968 in einem hoffnungsvollen Aufbruch. 1967 hatte mich Ratzingers "Einführung in das Christentum" – meine erste Vorlesung bei ihm – tief beeindruckt. Es muss die Weite seines Denkens gewesen sein, die den besonderen Eindruck hinterließ. Der Vortragsstil war es jedenfalls nicht, er war für mich eher befremdlich. Obwohl weitgehend frei sprechend, vermied es Ratzinger, sein Publikum in den Blick zu nehmen. Die Augen schienen eher nach innen gerichtet und der Blick schwebte über unseren Köpfen. Wie sich später zeigte, ließ er sich nur ungern aus der Höhe seiner Gedankenwelt aufwecken und in die Richtung einer gleichen Augenhöhe mit seinen Zuhörern bewegen. Einige wenige Studierende reizte die Geschlossenheit und Unangreifbarkeit seiner theologischen Gedankenwelt zum emotionalen Widerspruch, während die große Mehrheit seinem theologischen Entwurf hohe Anerkennung zollte. Uns Studierenden entging nicht, dass die Weite seines Denkens in einer gewissen Spannung zu einem eher kleinbürgerlich anmutenden Lebensstil stand. Der Kontrast zum Schweizer Bürgertum ausstrahlenden Auftreten Küngs konnte kaum größer sein. Küng und Ratzinger bildeten für uns Studierende die zwei polaren Eckpfeiler des theologischen Aufbruchs in Tübingen. Der belgische Journalist Freddy Derwahl hat 2006 ein Doppelpoträt von Ratzinger und Küng mit dem Titel versehen: Der mit dem Fahrrad und der mit dem Alfa kam. Nach meinen Erfahrungen handelt es sich bei dem dort gezeichneten Gegensatz des bescheidenen Fahrradfahrers Ratzinger einerseits und des auftrumpfenden Sportwagenfahrers Küng auf der anderen Seite um eine klischeehafte und wertende Überzeichnung der Polaritäten beider.
Allerdings habe ich ein Ereignis aus dem Jahr 1968 in Erinnerung, das für mich ein erstes Anzeichen für Ratzingers Ausscheren aus dem Kreis der Reformtheologen bedeutete. Die Deutsche Bischofskonferenz hatte 1968 unter Beteiligung Ratzingers dem Religionspädagogen aus dem benachbarten Reutlingen, Hubertus Halbfas, wegen dessen Buches Fundamentalkatechetik – Sprache und Erfahrung im Religionsunterricht die Lehrerlaubnis entzogen. Ratzinger stellte sich in einer eigens von studentischer Seite einberufenen Vollversammlung der Debatte und verteidigte vehement den Entzug der Lehrerlaubnis. Der meines Wissens erste Entzug der Lehrerlaubnis für einen Theologen in Deutschland nach dem Konzil traf dabei keinen Theologen mit marxistischen Neigungen, sondern einen, der den traditionellen Katechismusunterricht kritisierte und durch eine erfahrungsbezogene Hermeneutik des Glaubens zu ersetzen suchte. Dies macht deutlich, dass Ratzinger auch im Jahr 1968 nicht allein im Eindringen marxistischer Strömungen Gefahren für Glaube und Kirche sah. In Ratzingers Erinnerungen an die Tübinger Zeit fehlt ein Hinweis auf den Fall Halbfas. Seine Assoziationen zum Jahr 1968 kreisen ausschließlich um die Gefahren des Marxismus und der marxistisch orientierten Studenten und Dozenten für Theologie und Kirche. Nachdem man während der Konzilszeit die Lehrbeanstandungen und Disziplinierungen so vieler großer Theologen, die auf dem Konzil eine zentrale Rolle spielten, aufgehoben hatte, schien mir ein erneuter Rückgriff auf den Entzug der Lehrerlaubnis ein Rückfall in vorkonziliare Zeiten zu sein. Dieses von mir in der Vollversammlung vorgetragene Argument hat – wenn ich es richtig in Erinnerung habe – wenig Eindruck auf Ratzinger gemacht. Küng weist in seinen Erinnerungen an das Jahr 1968 darauf hin, dass im Fall Halbfas zum ersten Mal ein offener Dissens zwischen ihm und Ratzinger zu Tage getreten sei.