Diskussion zu Münchner Missbrauchsstudie: Fortschritte und Lücken
"Wir wollen an der Seite der Betroffenen stehen – dass wir das in unserem Erzbistum behaupten dürfen und mit Taten belegen können, war ein Prozess und bleibt eine Aufgabe." Davon ist der Münchner Kardinal Reinhard Marx überzeugt. Am Dienstagvormittag hatte er in einer Pressekonferenz eine erste Bilanz gezogen, was seit der Präsentation des zweiten Münchner Missbrauchsgutachtens vor einem Jahr passiert ist. Abends saß der Kirchenmann in einer Podiumsdiskussion und bekannte, er frage sich, warum "wir" erst so spät, nämlich 2010, auf die Opfer gehört hätten. Und dann habe es ja noch mal eine Weile gebraucht.
Vor allem aber dankte Marx den Betroffenen, "dass sie geredet haben und auch weiter reden". Er wisse aus Gesprächen mit ihnen, wie schwer dies sei. Für ihn wiederum, als "begeisterten Priester", sei es schmerzhaft gewesen zu erfahren: "Die Kirche, die Du Dir wünschst und sehen möchtest, die gibt es gar nicht!" Zwar sollten die vielen, die einen guten Dienst täten, nicht vergessen werden. Aber es gebe nun einmal diese dunkle Seite: "Das war und ist für mich nicht einfach."
Unter dem Titel "Von Aufarbeitung und Reformbemühungen: Was haben die Kirchen und ihre Verantwortlichen für die Zukunft gelernt" hatte die Freisinger Domberg-Akademie nach München in die Katholische Akademie geladen. Gut 100 Leute waren gekommen, an die 230 hatten sich für den Livestream angemeldet. Der aus Bochum zugeschaltete Professor für Neutestamentliche Exegese, Thomas Söding, gab zu, selbst lange gebraucht zu haben, um den "Ernst der Lage" zu erkennen. "Aber ich habe ihn erkannt."
Evangelien neu gelesen
Die Evangelien habe er daraufhin noch einmal neu gelesen, so Söding. Dabei entdeckte der Theologe, von Anfang an habe es in der Jesus-Tradition eine "harte, aufklärerische Warnung" an die Jünger gegeben, dass sie ihre besondere Nähe zu Jesus nicht ausnützen sollten, um Menschen zu demütigen. Doch "meine eigene Zunft" habe diesen Punkt verdrängt, weil in der Auslegung die Jünger in der Regel nicht die potenziellen Täter seien. Sie seien vielmehr die Opfer gewesen, die von "bösen Anderen" in Bedrängnis gebracht worden seien. "Das war für mich sehr erhellend und ernüchternd." Umso mehr sei er froh, dass in das Reformprojekt der katholischen Kirche in Deutschland, den Synodalen Weg, Betroffene eingebunden worden seien, sagte Söding.
Vom Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) in Bayern konnte Maria-Theresia Kölbl berichten, dass die Präventionsmaßnahmen für junge Leute selbstverständlich geworden seien. Was die Geistliche Verbandsleiterin bei der Lektüre von Missbrauchsstudien immer noch ärgere, sei, dass ihr als junger Frau in der Kirche permanent Grenzen gesetzt würden; zugleich aber sei ein System entstanden, in dem dies für Kleriker nie gegolten habe.
Politik in der Bringschuld
Der Schauspieler Kai Christian Moritz, Mitglied des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz, sieht die Politik in der Bringschuld. Er monierte, dass es noch immer keine neutrale, bayernweite Anlaufstelle für Betroffene gebe. Auch beim Thema Verjährung sei der Gesetzgeber gefragt. "Sexueller Missbrauch ist Mord an der Kinderseele. Und für Mord gibt es keine Verjährung", sagte er unter Applaus. Mit Blick auf den Synodalen Weg erinnerte Moritz daran, dass dieser vor allem auch wegen des Leids der von Missbrauch Betroffenen stattfinde.
Im Zusammenhang mit dem Thema Reformen ergänzte der Theologe Söding, manche Vatikanvertreter wollten noch immer nicht anerkennen, dass der Missbrauch in der Kirche eine systemische Ursache habe. Deshalb brauche es eine systemische Erneuerung. Die im Februar in Prag angesetzte kontinentale Versammlung des vom Papst angestoßenen weltweiten synodalen Prozesses werde ein Lackmustest sein. Denn die Rolle von Frauen in der Kirche, das Priesterbild und das Thema Macht würden nicht nur in Deutschland diskutiert.
Geduldig bemühten sich die Podiumsbeteiligten im Anschluss, Fragen zu beantworten. Am Ende reichte die Zeit nicht für alle. Kardinal Marx bat, wer noch Anliegen habe, möge ihm schreiben. Auch das sind neue Töne in der Kirche.