Missbrauchsbetroffener und -seelsorger: Es ist ein großer Spagat
Pfarrer Kilian Semel leitet die Stabsstelle Seelsorge und Beratung für Betroffene von Missbrauch und Gewalt in der der Erzdiözese München und Freising. Er ist der einzige Priester in der Stabstelle. Als Missbrauchsbetroffener und Vertreter der Institution Kirche sitzt er damit "zwischen den Stühlen". Im katholisch.de-Interview beschreibt er, was seinen Spagat ausmacht.
Frage: Pfarrer Semel, zahlreiche Betroffene, die im kirchlichen Raum missbraucht wurden, haben sich von der Institution Kirche abgewendet. Warum gibt es in der Erzdiözese München und Freising trotzdem eine Stelle für Seelsorge und Beratung für Missbrauchsbetroffene?
Semel: In den Gesprächen mit Betroffenen – auch bei uns im Betroffenenbeirat – wurde immer wieder deutlich, dass die Missbrauchserfahrungen dazu geführt haben, dass die Menschen sowohl ihren Glauben als auch die Sicherheit und Geborgenheit, die ihnen das Eingebundensein in der Pfarrei oder in der kirchlichen Jugendarbeit gegeben hat, verloren haben. Bei einem Teil von ihnen gibt es aber trotzdem noch eine unterschwellige Sehnsucht nach Glauben, nach Halt, nach etwas Höherem, das wir mit "Gott" bezeichnen können. Viele treibt auch die Frage um: Wo war Gott damals, als das geschehen ist? Wie konnte er das zulassen? Hat er da weggeschaut?
Frage: Die Stelle gibt es jetzt seit gut einem halben Jahr. Wie wird das Angebot denn angenommen?
Semel: Wir haben durchschnittlich täglich ein bis zwei Anrufe, bei denen sowohl Betroffene als auch Angehörige sich melden, die sich informieren wollen und Fragen haben. Gerade jetzt nach der Pressekonferenz zu den Maßnahmen nach einem Jahr der Vorstellung des neuen externen Gutachtens für die Erzdiözese München und Freising rufen noch einmal verstärkt Menschen an – auch einige, die nun das erste Mal den Mut gefasst haben, sich zu melden. Das sind Betroffene aus verschiedenen Diözesen Deutschlands. Es ist eine wichtige Aufgabe von uns, diesen Menschen zuzuhören und zu sagen: "Wir glauben dir und wir helfen dir in der Suche nach den entsprechenden Ansprechpartnern."
Frage: Was sind das denn grundsätzlich für Menschen, die in Ihre Beratung kommen?
Semel: Die meisten Betroffenen sind im fortgeschrittenen Alter und bei ganz vielen ist das Geschehene über Jahrzehnte tief verschüttet gewesen. Oft hat dann die Berichterstattung und die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Missbrauchsskandal seit 2010 dazu geführt, dass das Erlebte wieder an die Oberfläche gekommen ist. Das hat bei vielen auch zu einer Retraumatisierung geführt. Den Betroffenen geht es darum, dass vonseiten der Kirche anerkannt wird, dass ihnen schreckliches Leid zugefügt wurde. Dabei geht es nicht nur um eine finanzielle Anerkennung. Die ist natürlich wichtig, weil die Missbrauchserfahrungen schwierige Lebenssituationen ausgelöst haben. Manche Betroffene konnten aufgrund des Erlebten weder einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung machen, sind psychisch krank geworden. Dadurch sind sie jetzt im Alter oftmals in wirtschaftlichen oder auch sozialen Notlagen. Aber ich glaube, dass es vielen darum geht, dass von offizieller Seite, von Kirchenvertretern, von Bischöfen bis hin zu Papst Franziskus gesagt wird: "Ja, dir wurde von uns, von der Institution, Schlimmes zugefügt. Wir bereuen es zutiefst und bitten um Vergebung." Und es geht darum zu schauen, wie die Kirche versuchen kann, Betroffenen dabei zu helfen, ihre jetzigen und zukünftigen Lebenswege gut zu gehen.
„Es erschüttert mich und macht mich wütend, dass innerhalb der Institution Kirche der Blick auf die Betroffenen lange Zeit viel zu wenig da war und sie teilweise als Lügner hingestellt wurden.“
Frage: Sie sind selbst Missbrauchsbetroffener und gleichzeitig als Priester Vertreter der Institution Kirche. Inwiefern sitzen Sie damit "zwischen den Stühlen"?
Semel: Es ist ein großer Spagat, auf der einen Seite Teil der Institution Kirche zu sein, die von einigen auch "Täterorganisation" genannt wird, und selbst Betroffener zu sein. Aus eigenem Erleben kann ich die Situation der Menschen nachvollziehen, die sich in der Auseinandersetzung mit Missbrauchserfahrungen befinden. Ich kenne das Gefühl, die Institution und sogar den eigenen Glauben in Frage zu stellen. Aber ich kann auch daran mitwirken, dass Kirche lernt, besser darin zu werden, Betroffene in den Fokus zu nehmen und Missbrauch entschieden zu verhindern.
Frage: Was macht diesen Spagat aus?
Semel: Auf der einen Seite ist da Wut und Zorn über das eigene Erlebte und darüber, dass Frauen und Männer in ihrer Kindheit und Jugend, aber auch im Erwachsenenalter innerhalb der Kirche missbraucht worden sind. Auf der anderen Seite will man als Priester für diese Kirche einstehen und auch dagegen angehen, dass manchmal alle Priester als potenzielle Täter über einen Kamm geschoren werden.
Frage: Was macht das mit Ihnen?
Semel: Dieser Generalverdacht, der gerade nach dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals 2010 oder der Veröffentlichung der MHG-Studie 2018 spürbar war, war und ist extrem belastend. Es gibt ihn nicht nur bei Menschen, die der Kirche sehr kritisch gegenüberstehen, sondern auch in den Kirchengemeinden. Ich will nichts verharmlosen und jeder Täter ist einer zu viel. Jedoch weisen alle bisherigen Erkenntnisse in diesem Bereich darauf hin, dass die weit überwiegende Zahl der Priester und der kirchlichen Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen ihren Dienst gut verrichtet und sich nicht schuldig gemacht hat. Wir müssen aber natürlich auch – und noch mehr – die Betroffenen in den Fokus nehmen: Es erschüttert mich und macht mich wütend, dass innerhalb der Institution Kirche der Blick auf die Betroffenen lange Zeit viel zu wenig da war und sie teilweise als Lügner hingestellt wurden.
Frage: Wie reagieren die Betroffenen, wenn Sie zu Ihnen in die Beratung kommen und dort auf Sie als Priester treffen?
Semel: Ich bin ja nicht allein in der Beratung tätig, sondern es gibt noch zwei Psychologinnen. Zunächst einmal führen wir ein telefonisches Erstgespräch und hören dann meist schon heraus, was die Person braucht, ob es eher um eine psychologische Hilfe geht oder um ein seelsorgerisches Anliegen. Manche wollen, dass wir ihnen bei den Anträgen für die Anerkennungsleistung helfen, manche benötigen eine Weitervermittlung in eine Therapie. Und es gibt Menschen, die wirklich mit mir als Seelsorger sprechen wollen, weil es ihnen um religiöse Fragen geht. Manche rufen auch an und müssen erstmal nur Dampf ablassen. Im Kontakt mit den Betroffenen erlebe ich dabei eine positive Offenheit, weil ich sowohl Priester als auch Betroffener bin und es damit eine Grundbasis gibt und ich mich schnell hineinfinden kann in das, was die Menschen erzählen.
Frage: Was möchten Sie als Seelsorger für Betroffene konkret erreichen?
Semel: Meine Aufgabe ist es, gemeinsam mit anderen Betroffenen auf dem Weg zu sein und sie so zu begleiten, dass sie nach langen Jahren der Belastung spüren: Da geht jemand mit, da nimmt mich jemand ernst. Und dass sie erleben, dass die Institution Kirche es ernst meint, wenn sie sagt, dass sie an der Seite der Betroffenen steht.
Frage: Können Sie nachvollziehen, dass das Erlebte viele auch an Gott und ihrem Glauben hat zweifeln lassen?
Semel: Das kann ich sehr gut nachvollziehen – auch aus meiner eigenen Erfahrung. Ich habe mir nach 2010, als mein eigener Aufarbeitungsprozess begann, selbst die Frage gestellt: Kann ich in "meiner Kirche", in der Institution Kirche überhaupt weiterhin meinen Dienst tun? Will ich für diese Kirche, die so viel Schuld auf sich geladen hat, weiterhin als Priester tätig sein? Will ich in Gemeinschaft mit anderen Priestern stehen, die zu Tätern geworden sind? Durch psychologische und geistliche Begleitung bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass ich das, was mir widerfahren ist, trennen muss von dem, was meine eigene Berufung ist. Wenn ich alles hingeschmissen hätte, hätte ich ja dem Täter noch einmal Macht über mich geben und mich damit selbst bestraft.
„Ich habe lange Verantwortung in anderen Bereichen der Kirche übernommen und vielleicht hat – etwas fromm ausgedrückt – der liebe Gott gemeint: Hier wäre noch was für dich und dafür brauche ich dich.“
Frage: Welchen Einfluss haben die Gespräche mit den Betroffenen auf Sie und auf Ihren Glauben?
Semel: Entscheidend ist für mich immer der Blick auf Jesus selbst. Er war mit den Menschen auf dem Weg, ist ihnen offen begegnet, hat sie ermutigt und geheilt. Zugleich hat er ihnen das Reich Gottes geöffnet. Ich bin kein Heiler, aber ich kann als Priester und Betroffener Menschen im Gespräch und in der Begleitung dabei helfen, dass sie Wege gehen, die zur Heilung und zur Aussöhnung beitragen. Und vielleicht können sie durch diese Gespräche und die Auseinandersetzung ein Stück verarbeiten und ihren eigenen Frieden finden.
Frage: In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" haben Sie gesagt, dass Sie zuerst geschluckt haben, als die Anfrage kam, ob Sie diese Stelle übernehmen wollen. Schließlich haben Sie sich doch dafür entschieden und sehen darin Ihre Bestimmung. Was bedeutet das?
Semel: Ich hatte damals große Sorge, weil ich mich gefragt habe, ob ich das selbst kann, oder ob die Begegnung mit Betroffenen auch bei mir wieder zu einer Retraumatisierung führt. Die Aufgabe hier erlebe ich als eine große Herausforderung. Gleichzeitig erfahre ich, dass es eine ganz wichtige Aufgabe ist. Und so komisch sich das anhört: Ich glaube, dass ich das vielleicht alles durchmachen und aufarbeiten musste, um jetzt für andere in dieser Weise da sein zu können. Ich habe lange Verantwortung in anderen Bereichen der Kirche übernommen und vielleicht hat – etwas fromm ausgedrückt – der liebe Gott gemeint: Hier wäre noch was für dich und dafür brauche ich dich.
Frage: Wie bewerten Sie denn insgesamt die Missbrauchsaufarbeitung der Kirche?
Semel: Ich bin überzeugt davon, dass die Kirche in Deutschland seit 2010 einen gewaltigen Lernprozess gemacht hat, aber in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Aus eigener Erfahrung – auch als Mitglied im Betroffenenbeirat und in der Aufarbeitungskommission in unserer Erzdiözese – sehe ich, dass die Verantwortlichen in den Diözesen seitdem viel auf den Weg gebracht haben, vor allem im Bereich der Prävention und in der Wahrnehmung der Betroffenen und ihrer Anliegen Aber wir sind noch nicht am Ende, es gibt noch manches zu tun. Ich möchte die Kirche an dieser Stelle nicht verteidigen, aber ich glaube, das wird in der Öffentlichkeit zu wenig gesehen. Ich glaube, dass inzwischen eine große Wachsamkeit da ist und ich wüsste keine Institution in unserem Land, die in dieser Form die notwendigen Dinge auf den Weg gebracht hat.