Ilse Müllner über den Umgang mit sexualisierter Gewalt im öffentlichen Diskurs

Missbrauch in der Kirche: Das Schweigen schützt die Täter

Veröffentlicht am 21.03.2023 um 00:01 Uhr – Von Ilse Müllner – Lesedauer: 

Kassel ‐ Allzu oft wird über Gewalt und Missbrauchstaten öffentlich nicht gesprochen. Auch weil die Betroffenen zum Schweigen gezwungen werden. Selbst in der Bibel finden sich dafür Beispiele. Wie man solche Tabus aufbrechen kann, beschreibt die Bibelwissenschaftlerin Ilse Müllner in ihrem Gastbeitrag.

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Noch immer werden Handlungen sexualisierter Gewalt in der Gesellschaft tabuisiert, erklärt die Bibelwissenschaftlerin Ilse Müllner in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Bibel und Kirche". Doch das Thema sei drängend und solle nicht nur durch öffentliche Skandale wahrgenommen werden, so die Theologin in ihrem Gastbeitrag. Es gehe um eine dauerhafte Sensibilisierung für das Thema. Um den Diskurs darüber in Theologie und Kirche wachzuhalten, könne auch die Bibel helfen.

Sowohl die individuellen Handlungen sexualisierter Gewalt als auch der öffentliche Diskurs darüber stehen unter einem Schweigegebot. Die Täter und ihr Umfeld schützen sich oftmals dadurch, dass sie die Opfer ihrer Gewalttaten auf das Schweigen verpflichten. Diese Strategie ist nicht neu.

Das Schweigen schützt die Täter und verkapselt das Trauma der Opfer 

"Meine Schwester, sprich nicht darüber. Dein Bruder ist er." (2 Sam 13,20) Schon der biblische Davidssohn Abschalom erlegt seiner Schwester Tamar dieses Gebot auf, nachdem diese von ihrem Bruder Amnon vergewaltigt worden war. Das Schweigen schützt die Täter und verkapselt das Trauma der Opfer. Zwischen dem Schweigen der Einzelnen und dem Umgang der Gesellschaft mit dem Thema sexualisierte Gewalt gibt es einen Zusammenhang. Das Schweigen über die Gewalttat spiegelt sich in der gesellschaftlichen Verdrängung des Themas.

Es hat unendlich lange gedauert, bis mit der feministischen Bewegung der 80er Jahre ein öffentlicher Diskurs um sexualisierte Gewalt in Gang gekommen ist. Akademietagungen, Publikationen, Fernsehdiskussionen, aber auch Sonntagabendkrimis nahmen das Thema auf. Auch in den Kirchen wurde die gewaltförmige Verbindung von Sexualität und Macht bereits in den 80er und 90er Jahren zum Thema gemacht, vor allem durch die feministische Theologie. Doch als 2010 der Skandal um den sexualisierten Macht-Missbrauch sowohl im Canisius-Kolleg als auch in der Odenwaldschule in die Öffentlichkeit kam, der unsere Kirche bis heute nachhaltig in ihren Fundamenten erschüttert, schien es, als habe es die Diskurse der 80er und 90er Jahre nicht gegeben. So groß war die Überraschung über die schiere Existenz solcher Gewaltformen.

Bild: ©Universität Kassel

Ilse Müllner lehrt als Professorin für Biblische Theologie und Altes Testament am Institut für Katholische Theologie an der Universität Kassel.

Mittlerweile haben mehrere Wissenschaftsdisziplinen festgestellt, dass das Thema sexualisierte Gewalt dazu tendiert, immer wieder "in Vergessenheit" zu geraten, von der Bildfläche der Aufmerksamkeit zu verschwinden. Allerdings: Immer dann, wenn gerade wieder ein besonders prominenter "Fall" an die Öffentlichkeit kommt, wird bewusst, dass es sich dabei um ein gravierendes und weiträumiges Problem handelt. Sobald aber der Skandal aus den Schlagzeilen ist, gerät auch das Thema wieder in Vergessenheit. Sexualisierte Gewalt wird also nur dann als gesellschaftlich und kirchlich drängendes Problem wahrgenommen, wenn es gerade einen Skandal gibt: einen prominenten Täter, ein neues Missbrauchsgutachten, eine bis dahin nicht auffällig gewordene Institution.

Damit aber wird das Thema erneut tabuisiert. Indem es ausschließlich im empörten Ton des Skandals verhandelt wird, gerät die Dauerhaftigkeit ebenso aus dem Blick wie die erschreckende Alltäglichkeit. Wenn die Aufmerksamkeit nur über je neue Skandale herzustellen ist, dann wird eine kontinuierliche Präventivarbeit unmöglich gemacht. Auch die Forderung nach tiefgreifenden kirchlichen und gesellschaftlichen Veränderungen verhallt, wenn der Anlass dafür aus dem Bewusstsein gedrängt wird. So muss jedes Mal wieder von vorne angefangen werden mit der Sensibilisierung für das Thema, mit Bewusstseinsarbeit, mit kritischen Analysen – zu Veränderungen in Struktur und Handeln kommt es dann kaum noch.

Aufgabe der Theologie: Den Diskus wachzuhalten

Die Aufgabe von Theologie und Kirche, von Religionsunterricht und Pastoral besteht demgegenüber darin, das schmerzhafte, unbequeme, skandalöse Thema unermüdlich auf die Tagesordnung zu setzen, den Diskurs darüber wachzuhalten. Woher wir das lernen können? Aus der Bibel, die uns nichts erspart. Weder die schweren Themen noch die permanente Konfrontation damit. Das ist eine Größe des Kanons, dass wir uns nicht aussuchen können, womit wir uns beschäftigen. Auch das, was wir nicht angenehm finden und was wir lieber verdrängen, das Skandalon, dem wir ausweichen wollen, bleibt zur Auslegung aufgegeben – als kanonischer Text.

Von Ilse Müllner