In der Hauptstadt des Wassers
In der kleinen Fußgängerzone sind alle Straßen nach seinen Mitstreitern oder berühmten Kneippärzten benannt. Im Kurhaus steht er als lebensgroße Pappfigur, an einer Apothekenfassade im Kräutergarten in Begleitung seines weißen Spitzes. Und überall hört man es plätschern und rauschen.
Könige und Bauern kamen
Bad Wörishofen ist der bekannteste deutsche Kurort. Wenn die Bäume im Kurpark sprechen könnten, würden sie von über abertausenden Menschen berichten, die hier die heilende Wirkung des Wassers gesucht haben. Ob König oder Bauer, sie alle kamen und wurden seine Patienten. Reich oder mittellos – der Wasserdoktor machte keinen Unterschied, außer dass er kein Geld von den Armen nahm.
Anfangs kamen 40 Touristen. Wenige Jahre später waren es bereits 5.000. Dann setzte der Bauboom ein, währenddessen ließ Sebastian Kneipp mit Unterstützung durch Erzherzog Josef von Österreich-Ungarn den Kurpark anlegen. 120 neue Gebäude, vor allem Hotels und Pensionen, entstanden.
Eines der ersten Kurhäuser steht noch: Das Sebastianeum hat Kneipp persönlich vor über 120 Jahren gegründet. Wie schon zu Lebzeiten Pfarrer Kneipps laufen seine Besucher in Bademänteln von einer Anwendung zur nächsten. So wie Ewald und Gisela Ruof.
Das Ehepaar aus dem baden-württembergischen Frittlingen kommt seit 15 Jahren. "Drei Wochen lassen wir es uns hier richtig gut gehen", sagt Ewald Ruof. Im historischen Haus, das wie ein Hotel der gehobenen Klasse aussieht, kann er jeden Tag stoffwechselfördernde Güsse zum Frühstück bestellen, und zum Abendessen entgiftende Leibwickel und Fußreflexzonenmassage.
Heusack am Morgen
Seine Ehefrau gönnt sich früh am Morgen lieber einen heißen Heusack. Sie liegt in einer der 18 Kabinen und wartet. Überall macht sich ein Heuduft breit. Denn im Raum nebenan hat die Mitarbeiterin Maria Eisele den großen Dampfkessel geöffnet, wo prallgefüllte handgenähte Leinensäcke liegen. "Unser Heu kommt direkt von der Alm und ist mit 25 unterschiedlichen Kräutern und Gräsern durchmischt", sagt Eisele. Jeden Morgen füllt sie es großzügig in die Säcke.
Das Heukissen ist drei bis vier Kilo schwer und groß genug für den gesamten Oberkörper. Zwischen die Decken gewickelt, genießen die Patienten fast eine Stunde lang die Wärme. So kann der Heusack richtig wirken: Er entgiftet die Leber, fördert die Durchblutung und löst Verspannungen. Auch nach einigen Anwendungen schwärmt Gisela Ruof immer noch vom Bad im Allgäuer Heu: "Man liegt wie auf einer warmen frisch gemähten Heuwiese."
Die Gäste des Sebastianeums können aber auch traditionell mit einem klassischen Kneipp-Guss in den Tag starten. "Tief einatmen", ruft Bademeister Franz Zoller und setzt das Schlauchende am rechten Hinterfuß eines Patienten an. "Ruhig weiter atmen", sagt er und führt das neun Grad kalte Wasser zum Gesäß hoch und an der Innenseite des rechten Beines wieder zum Fuß zurück. Dann kommt das andere Bein dran, danach die Arme samt Schultern. Der Bademeister beherrscht die Linienführung.
Die gleiche Prozedur folgt auf der Vorderseite des Körpers. "Zunächst scheint das Wasser wie tausend kleine Stiche zu schmerzen, doch man gewöhnt sich dran", tröstet Zoller. Der Reiz von kalt zu warm regt die Selbstheilungskräfte des Körpers an und härtet ab. Nach den ersten Anwendungen beginne so manch ein Gast zu genießen, wie der gebundene drucklose Wasserstrahl den Körper wie ein Mantel umspült.
Vollguss für die Harten
Der Vollguss ist nur etwas für abgehärtete Kneipp-Enthusiasten. Bevor man sich daran wagt, sollte man sich erst einmal mit leichteren Güssen eingewöhnen, so der Rat des Kneippmeisters. Einfach durchzuführen ist zum Beispiel der Gesichtsguss oder Schönheitsguss, wie Franz Zoller ihn gerne bezeichnet: "Das erfrischt nicht nur, sondern strafft auch die Gesichtshaut."
Manche Patienten trainieren mit Wechselgüssen die Gefäßnerven. "Bei Wassertemperaturen von heiß bis brunnenkalt kommt das Blut richtig in Wallung", erklärt Zoller. Nach jedem Guss empfiehlt der Bademeister, sich nicht abzutrocknen, sondern das Wasser nur gut abzustreifen. "Dann schnell ab in den Bademantel und eine halbe Stunde Ruhe."
Franz Zoller und sein Team verabreichen täglich 15 Stunden das Heil aus dem Schlauch. Neben Güssen, Kräuterbädern und Wassertreten, dem bekannten Storchengang im Wasserbecken, zählen ebenso Wickel, Auflagen, Durchstrahlmassagen, aber auch Tau- und Schneetreten zu über hundert verschiedenen Wasseranwendungen. Dabei ist die Heilkraft des frischen Wassers nur eine der so genannten fünf Säulen der Kneipp-Kur.
"Kneipp ist mehr als kaltes Wasser", unterstreicht Christiane-Maria Rapp, Leiterin der Kneippschen Stiftungen in Bad Wörishofen, zu denen neben dem Sebastianeum das Kneippianum und die Kneippsche Kinderheilstätte gehören. "Die Ganzheitstherapie basiert auf Wasser, Bewegung, Heilpflanzen, ausgewogene Ernährung sowie der Einklang von Körper, Geist und Seele."
Kneipp auf der ganzen Welt
Was Pfarrer Kneipp aus seinem Erfahrungsschatz und Gesprächen mit Patienten entwickelt hat, hat sich nicht nur in den historischen Kurhäusern über hundert Jahre bewährt. Seine Nachfolgerin Rapp ist stolz auf Kneipps Lehre, die weltweit als Bewegung in insgesamt 27 Ländern über den Dachverband „Kneipp Worldwide“ organisiert ist. Sie betont: "Kneipps Therapiemethode ist bis heute das einzige ganzheitliche naturheilkundliche Verfahren in Europa."
Den Körper, Geist und Seele miteinander in Einklang zu bringen – das funktioniert auch im heimischen Badezimmer. Eine sanfte Methode, den Tag nach Kneipp zu beginnen, sind die Morgenwaschungen. Im Sebastianeum werden die ersten noch vor dem Sonnenaufgang verabreicht. An der Rezeption nimmt Schwester Josefine Anwander einem die Angst vorm Frühaufstehen: "Sie können und sollen im Bett weiterdösen, während ihre Arme und Beine mit kaltem Lappen abgewaschen werden."
Die kalte Waschung regt alle Körperfunktionen an und wirkt entschlackend, immunstärkend und entspannend. erklärt sie. "Danach schlafen Sie wie ein Baby wieder ein", versichert die 54-Jährige. Schwester Josefine weiß, wovon sie redet. Seit 40 Jahren arbeitet sie im traditionsreichen Haus und vertraut auf die fünf Säulen der Kneipptherapie. "Mit dieser ganzheitlichen Methode wurde meine Großtante fast hundert Jahre alt", sagt die Schwester nicht ohne Stolz.
Vergesst die Seele nicht
Die Gemeinschaft der Raphael Schwestern, zu der Josefine Anwander als 15-Jährige kam, wird von Irmgard Poeplau geleitet. Auch die Oberin schwört auf die heilende Wirkung des Wassers und beginnt jeden Tag mit einem Kneippguss. "Ich brauche allerdings keinen Blitzguss mit Wasserdruck von drei Bar", räumt sie ein und lacht. Die 72-Jährige kümmert sich mit sechs weiteren Schwestern um die Gäste des Sebastianeums.
Und die Gäste wiederum schätzen die Präsenz der Schwestern, die eine ruhige und christliche Atmosphäre ins Haus bringen. Die fünfte Säule bezeichnet Schwester Oberin als Ordnung in der Lebensführung oder einfach als Religion. Seit 30 Jahren kümmert sie sich um ihre Gäste und deren Wohlergehen liegt ihr besonders am Herzen. Nicht umsonst hat Kneipp immer betont: "Vergesst mir die Seele nicht."