Mafia und Missbrauch: Vorwürfe gegen Johannes Paul II. im Fall Orlandi
Seit 40 Jahren erregt das Verschwinden der Vatikan-Bürgerin Emanuela Orlandi die Gemüter. In TV-Sendungen und Zeitungsartikeln verfolgt ein ganzes Volk gebannt jede Information zu einem der rätselhaftesten Kriminalfälle der italienischen Geschichte. Meist im Mittelpunkt: Pietro Orlandi, Emanuelas großer Bruder. Der heute 66-Jährige war der Letzte in der Familie, der Emanuela vor ihrem Verschwinden sah. Seit Jahrzehnten wirbt er öffentlichkeitswirksam für Aufklärung.
Nun ist der Römer in den Augen vieler Lands- und vor allem Kirchenleute über das Ziel hinausgeschossen. Zwischen ihm, seiner Anwältin und dem Vatikan ist ein Kampf um die Deutungshoheit ausgebrochen. Am Sonntag schaltete sich Papst Franziskus ein. Der Grund: In einer italienischen Fernsehsendung vergangene Woche hatte Orlandi schwere Vorwürfe gegen Johannes Paul II. (1978-2005) angedeutet - rückte ihn in die Nähe von organisiertem Verbrechen und sexuellem Missbrauch. Der polnische Papst war im Amt, als Emanuela am 22. Juni 1983 spurlos verschwand.
An jenem Tag kehrte die damals 15-jährige Tochter eines Vatikan-Angestellten von ihrem Musikunterricht nicht nach Hause zurück. Seitdem gibt es, zuletzt auch in einer Netflix-Reihe, Gerüchte und Verschwörungstheorien: Es geht um Entführung, Erpressung, Beteiligung der Mafia oder vatikanische Sex- und Drogenpartys. Beweise fanden sich bislang ebenso wenig wie die sterblichen Überreste des Mädchens.
Neue Ermittlungen der vatikanischen Staatsanwaltschaft
Die italienische Staatsanwaltschaft hat mehrere Male ermittelt und das Verfahren zuletzt im Oktober 2015 ergebnislos eingestellt. Anfang 2023 nahm nun der neue Vatikan-Staatsanwalt Alessandro Diddi Ermittlungen auf, im Auftrag von Papst Franziskus. Es sei der starke Wunsch des Papstes und von Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, vorbehaltlos Klarheit zu schaffen, erklärte Diddi in einem Interview. Ihm sei maximale Handlungsfreiheit gewährt worden mit der Auflage, nichts zu verschweigen.
In diesem Zusammenhang traf sich der Vatikan-Staatsanwalt vorige Woche mit Pietro Orlandi und seiner Anwältin. Acht Stunden dauerte das Gespräch, Orlandi, so erklärte er zuvor, wollte Dokumente und Namen möglicher Zeugen aus eigenen Ermittlungen weitergeben; darunter angeblich auch ein Tonband, das Orlandi nach dem Treffen im Vatikan in einer Talkshow vorspielte. Darin erhebt ein Mann, der dem organisierten Verbrechen nahestehen soll, schwere Vorwürfe gegen Johannes Paul II., bringt ihn in direkte Verbindung mit dem Verschwinden von Emanuela.
Orlandi erzählte anschließend, ihm sei von abendlichen Ausflügen des Papstes berichtet worden. Gemeinsam mit zwei polnischen "Monsignore-Freunden" soll dieser manchmal herumgefahren sein, weil er aufgrund des schweren Pontifikats "etwas Luft holen musste". Und, so Orlandi raunend, Johannes Paul II. sei sicher nicht durch die Stadt gezogen, "um Häuser zu segnen".
Obwohl Orlandis Anwältin Laura Sgro rasch zurückruderte und betonte, es sei nicht beabsichtigt gewesen, Anschuldigungen gegen irgendjemanden zu erheben, folgte bald eine Empörungswelle. Als Erster ergriff der ehemalige Privatsekretär von Johannes Paul II., Kardinal Stanislaw Dziwisz, das Wort. Er sprach von "schändlichen Unterstellungen", "von Anfang bis Ende falsch, unrealistisch, lächerlich bis an die Grenze der Komödie". Johannes Paul II. habe im Fall Orlandi von Anfang an gehandelt und nichts verheimlicht.
Vatikan äußert sich ungewohnt scharf
Der Mediendirektor des sonst eher schweigsamen Vatikans, Andrea Tornielli, veröffentlichte ein brennendes Plädoyer für den 2005 gestorbenen Papst. Auf etwa einer Din-A4-Seite spricht er die Lesenden direkt an, vergleicht den Papst mit einem bekannten, respektierten verstorbenen Verwandten; fragt, wie sie sich fühlen würden, wenn im Fernsehen gegen ihren "Vater oder Großvater" Vorwürfe erhoben würden, nachts auszugehen und zusammen mit einigen "Spielkameraden" minderjährige Mädchen zu belästigten.
Tornielli prangert fehlende Beweise und Indizien für diese Aussagen an und spricht von einem "Medienmassaker", das "die Herzen von Millionen von Gläubigen und Nicht-Gläubigen gleichermaßen verletzt". Jeder müsse sich für seine Verbrechen verantworten, "aber niemand hat es verdient, auf diese Weise verleumdet zu werden".
Erneut verstimmt reagierten der Vatikan und seine Medien, als sich Orlandis Anwältin bei einem Treffen mit dem Vatikan-Staatsanwalt am Samstag, bei dem sie Beweise für die schwerwiegenden Anschuldigungen hätte vorlegen können, auf ihr Berufsgeheimnis berief und schwieg. Um das Treffen habe die Anwältin "wiederholt öffentlich gebeten", heißt es in der Erklärung von Vatikansprecher Matteo Bruni. Als "unerwartet und überraschend" ordneten die Vatikanmedien ihr Schweigen ein.
Der Chef der Kommunikationsbehörde, Paolo Ruffini, verteidigte zudem die Berichterstattung seines Hauses gegen Vorwürfe der Anwältin. Sie hatte erklärt, eine von Vatican News gewählte Überschrift ("Anschuldigungen gegen Wojtyla. Pietro Orlandi und Anwalt Sgro weigern sich, Namen zu nennen") sei falsch.
Rückhalt für Johannes Paul II. gab es am Sonntag dann auch von höchster Vatikan-Stelle. Nach dem Mittagsgebet auf dem Petersplatz sagte Papst Franziskus: "In der Gewissheit, die Gefühle der Gläubigen in der ganzen Welt zu deuten, richte ich einen dankbaren Gedanken an das Andenken des heiligen Johannes Paul II, der in diesen Tagen Gegenstand von verletzenden und haltlosen Behauptungen ist."