Religion könne für Demokratien hilfreich sein, aber...

Philosoph: Kirchen haben sich lange gegen Demokratie gewehrt

Veröffentlicht am 12.05.2023 um 11:39 Uhr – Lesedauer: 

Oberursel ‐ Religion kann nach Ansicht des Philosophieprofessors Otfried Höffe hilfreich für den Bestand und das Funktionieren von Demokratien sein. Den Kirchen wirft er zugleich vor, sich "jahrhundertelang gegen den Gedanken der Demokratie gewehrt" zu haben.

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Nach Ansicht des emeritierten Tübinger Philosophieprofessors Otfried Höffe kann Religion hilfreich für den Bestand und das Funktionieren von Demokratien sein. Gleichzeitig müsse man aber anerkennen, "dass eine Demokratie auch ohne eine Religion lebensfähig sein muss. Die Atheisten als solche sind doch keine schlechteren Bürger oder gar eine Bedrohung für das Gemeinwesen", sagte Höffe in einem am Freitag veröffentlichten Interview der Zeitschrift "Publik-Forum". Demokratie brauche andere Quellen als die Religion, wenn sie sich immer wieder stabilisieren und erneuern solle. "Die Zahl der Christen wird immer mehr abnehmen; schon heute bekennt sich nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung zum Christentum. Schon aus diesem Grund kann unser Gemeinwesen sich nicht auf dem Fundament des Christentums aufbauen", so der Philosoph.

Den Kirchen warf Höffe vor, sich "jahrhundertelang gegen den Gedanken der Demokratie gewehrt und ebenso lang gegen den Gedanken der Grund- und Menschenrechte gekämpft" zu haben. Zwar habe das Evangelium "demokratisches Potenzial", es habe in der Geschichte aber zu wenige Theologen gegeben, die dies erkannt und vehement vertreten hätten. Höffe verwies auch auf die "gegen den Sozialismus und einen Manchesterliberalismus entwickelte katholische Soziallehre", die mit dem Grundgedanken der sozialen Gerechtigkeit und den Prinzipien von Personalität, Subsidiarität und Solidarität ein starkes demokratisches Potenzial enthalte. Auch das habe die Wirklichkeit aber nicht hinreichend geprägt.

Mit Blick auf das Grundgesetz würdigte Höffe die am Anfang der Verfassung stehende Formulierung "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott". Die Verfassungsväter hätten sich hier nicht auf bloße Partei- oder Machtpolitik oder auf das, was das Staatsvolk für sich bestimmt, sondern auf eine höhere Instanz berufen. "Diese Demutsformel, wonach der Mensch nicht alles machen darf, was er will, halte ich für wichtig, zumal man die Formel nicht im strengen Sinn religiös interpretieren muss", sagte der Professor. Er wandte sich damit auch gegen die berühmte Formel des verstorbenen Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Dass Böckenförde dabei vor allem an das Christentum und damit die Religion gedachte habe, halte er für falsch, so Höffe. (stz)