Langer Weg zur geistigen Heimat
Die Frau, die Ursula Dworschak am meisten geprägt hat, trug einen verheißungsvollen Nachnamen: Himmel. Ihr schallendes Lachen, ihre Gastfreundschaft und ein "Talent im Hier und Jetzt zu leben", das hat Dworschak tief beeindruckt. Vor allem aber, dass Erika Himmel trotz allem ihren Humor nicht verloren hat. Sie hatte eine Halbseitenlähmung, musste in Kindertagen aus Schlesien fliehen und lebte 40 Jahre in der Psychiatrie. "Sie hat uns so viel Freude und Leichtigkeit geschenkt", sagt Dworschak, die mehrere Jahre mit ihr gelebt hat. Von ihr habe sie Lebenskunst gelernt. Erika Himmel starb vor einem Jahr, einen Tag nach ihrem 86. Geburtstag, im Kreis ihrer "Wahl-Verwandtschaft": der Frauen und Männern der Arche Tecklenburg.
"L'Arche" wurde vor 50 Jahren von dem Kanadier Jean Vanier ins Leben gerufen. Der katholische Philosoph lebte mit zwei geistig behinderten Männern in einem Dorf nahe Paris. Dabei spürte er, dass Menschen mit und ohne Behinderung viel voneinander lernen können, indem sie ihr Leben und ihren Glauben miteinander teilen. Darin sah er einen bedeutenden Beitrag für den Einzelnen und die Gesellschaft. Mittlerweile gibt es 146 Arche-Gemeinschaften in 36 Ländern.
Die Gemeinschaft in Tecklenburg gibt es seit 28 Jahren. Sie besteht aus drei Häusern, in denen Bewohner und Assistenten zusammen beten, gemeinsam essen und ihren Alltag teilen. Tagsüber arbeiten die Bewohner in Behindertenwerkstätten, die Assistenten kümmern sich um den Haushalt. Jede Hausgemeinschaft trifft sich täglich zum Abendgebet, immer donnerstags um 17:30 Uhr kommen Bewohner aller Häuser zum Gemeinschaftsgebet zusammen. Sonntags besuchen sie Gottesdienste in verschiedenen Kirchengemeinden.
Die erste Begegnung mit dieser Lebensform war für Ursula Dworschak Zufall. Im Juni 2001 lernte sie die Arche-Gemeinschaft in Ravensburg kennen. Damals beendete sie gerade ihre Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin, hatte schon einen Platz für ihr Anerkennungsjahr in einer anderen Einrichtung. Sie begleitete eine Freundin in die Arche und fühlte sich sofort zuhause. Sie fragte, ob es in einer Arche-Gemeinschaft noch einen freien Platz gäbe. Gleich im August zog sie aus der schwäbische Heimat in den Norden, in eines der Häuser der Arche in Tecklenburg. Ein Jahr begann, das ihr Leben stark geprägt hat: "Das war wie eine neue Zeitrechnung", sagt Dworschak.
Stärken im menschlichen Miteinander
Sie habe begonnen, sich selbst anders zu erleben: Die nach eigener Aussage schlechte Schülerin stellt in der Arche fest, dass nicht allein die Leistung zählt, sondern der Mensch als ganzer. Sie entdeckt, dass ihre Stärken im menschlichen Miteinander liegen: "Was in der Gesellschaft sonst als Stärke gilt, ist nicht wirklich Stärke." Sie mag die transparenten Strukturen und dass ihre eigene Meinung einen Wert hat. Dass sie spürt: "Es macht Sinn, mich zu engagieren." Auch das Gemeinschaftsleben empfindet sie als bereichernd: "Da es im Haus weder Internet noch Fernsehen gab, haben wir Assistenten uns manchmal bis spät in die Nacht unterhalten."
Das Jahr ging schnell vorbei - doch das Thema Arche ließ sie nicht mehr los. Dworschak bewarb sich um einen Studienplatz und gleichzeitig für ein Jahr in der Arche Daybreak in Toronto. Den Studienplatz bekam sie nicht, also reiste sie nach Kanada. "Das Jahr war eine Herausforderung", sagt Dworschak. "In den ersten Monaten habe ich fast täglich überlegt, wieder abzureisen." Die Strukturen in Toronto waren anders: Die Bewohner verteilten sich auf neun Häuser, viele Assistenten wohnten außerhalb. Dworschak verbrachte viel Zeit allein, las viel. In Toronto betreute sie eine Frau, die mehrfach schwerstbehindert war und nicht sprechen konnte. "Es hat Zeit und Muße gekostet, ihre Mimik und Gestik zu deuten", erzählt Dworschak. "Aber sie hat mir geholfen, mich auf die Situation einzulassen."
Fünf Jahre ohne Arche
Nach dem Jahr bekam Ursula Dworschak eine Zusage für ein Studium der Heilpädagogik und zog 2003 nach Münster. Doch ihrer Wahlfamilie in Tecklenburg hat sie sich in den Jahren durchgängig zugehörig gefühlt. Mit ihr hat sie Ostern und Weihnachten gefeiert oder einfach nur ein Wochenende verbracht: "Dort war meine Herzensheimat", sagt sie. "Menschen, die mich so genommen haben wie ich bin." Als nach dem Grundstudium das Praxissemester anstand, hat Dworschak es in der Arche verbracht. Auch nach dem Ende des Studiums zog sie wieder dorthin und blieb ein Jahr.
„Erst als ich wegging, habe ich gemerkt, wieviel Glauben und alltägliches Christsein ich in der Arche gelebt habe.“
Als sie sich die Fragen stellen musste, wo sie zuhause ist und wie sie leben will, zieht Dworschak wieder ins Allgäu, zu ihren Eltern. Dort arbeitete sie in einer Behinderten-Werkstatt, einem Kinderheim und einer heilpädagogischen Tagesstätte: "Das waren intensive fünf Jahre." Sie gewann Abstand von der Arche und stellte dabei fest: "Erst als ich wegging, habe ich gemerkt, wieviel Glauben und alltägliches Christsein ich in der Arche gelebt habe." Die Suche nach dem richtigen Glaubensleben begann. Ständig begleitete sie die Frage: "Wo hat Gott Platz in meinem Leben?"
Der Kontakt zur Arche brach in dieser Zeit nicht ab. Dworschak verbrachte die Feiertage und ihren gesamten Jahresurlaub dort. Jedes Mal wurde sie "wie selbstverständlich" aufgenommen. "Die Arche war nie weg aus meinem Leben", sagt sie. "Ich habe mich immer heimisch gefühlt." In der Zeit hat man sie zweimal gefragt, die stellvertretende Leitung zu übernehmen. Doch Dworschak lehnte ab. Sie war noch nicht so weit. Während einer Ausbildung zur systemischen Begleiterin bekam sie selbst auch Supervision. "Da habe ich gemerkt: Ich konnte mir nicht eingestehen, dass dieses unkonventionelle Leben in der Arche eher meins ist."
Klare Entscheidung für alternatives Leben
Dann kam die entscheidende Wende in ihrem Leben: "Mir fiel es schwer anzukommen, Wurzeln zu schlagen", sagt Dworschak. "Ich merkte: Ich brauche fruchtbaren Boden, in dem ich wachsen kann." Ein Gedanke schwebte in ihrem Kopf: Tecklenburg. Genervt, dass das Thema plötzlich wieder aufkam, machte sie einen Spaziergang. Sie haderte mit sich. Da lief sie an einem Kreuz vorbei: "Plötzlich wusste ich: Auf Gott kann ich mich verlassen." Sie sah den Moment als Wegweiser, nahm die Zweifel mit ins Gebet: Die Angst, ihren Eltern davon zu erzählen. Die Frage nach finanzieller Absicherung. "Arche zu leben hat nichts Vernünftiges", sagt Dworschak. "Aber es ist ein Ort, wo ich ich sein kann."
"Genau das ist meins", konnte sie ihren Eltern verkünden. Geldeinbußen hin oder her: "Ich stehe dafür ein und will es leben." Mit der Klarheit und Sicherheit in sich, das richtige gefunden zu haben, freuten sich die Eltern mit ihrer Tochter. Im Dezember 2013 übernahm Ursula Dworschak die Leitung der Arche in Tecklenburg. Sie wohnt außerhalb, in einer kleinen Wohnung. "Ein bisschen Privatraum ist auf lange Zeit hilfreich und nötig", sagt sie. In den nächsten Jahren will sie versuchen, eine eigene Familie mit der Arche zu verbinden. Und sie will mit der Arche "nach außen gehen", den Menschen zeigen, wie sie von dieser Lebensform lernen können. Für Dworschak ist das Gemeinschaftsleben nämlich kein Selbstzweck: "Die Arche ist für die Gesellschaft da, nicht für uns."