Spannungspol der Ortskirchen

Veröffentlicht am 06.05.2014 um 00:00 Uhr – Von Maria Widl – Lesedauer: 
Neue Geistliche Gemeinschaften

Erfurt ‐ Die neuen kirchlichen Bewegungen treten nicht im luftleeren Raum auf, sondern sind konkret vor Ort aktiv. Dabei gibt es auch Spannungen mit den Ortskirchen. Im Gastbeitrag erklärt die Erfurter Pastoraltheologin Maria Widl, wie diese entstehen.

  • Teilen:

Die Neuen Geistlichen Gemeinschaften (NGG) und kirchlichen Bewegungen haben begonnen, sich zu etablieren und sind aus dem Bild der Ortskirchen nicht mehr weg zu denken. Doch damit wächst auch die Kritik an ihnen, es zeigen sich Probleme und neue Spannungsfelder entstehen. Ihre oft ungeklärte kirchenpolitische Stellung, etwaige sektenartige Tendenzen und mögliche Spaltungen in den Pfarrgemeinden werden als Gefahr gesehen.

Aber pauschale Einschätzungen oder erst recht Verurteilungen sind weder angebracht noch möglich, denn es handelt sich bei den NGG um völlig unterschiedliche Gruppierungen in Erscheinungsform und Struktur, in Zielgruppe und Wirkweise, in Spiritualität und Dynamik. Zur Klärung der Spannungen möchte ich die Unterschiede zu den Pfarrgemeinden und ihre jeweiligen Stärken und Schwächen näher in den Blick nehmen. Diese basieren weitgehend darauf, ob man sich die Welt mit einem modernen oder einem traditional-postmodernen Deutungsmuster erklärt.

Frömmigkeit und Engagement

Zum Glaubensverständnis der NGG gehört die Überzeugung, dass alle Ergebnisse ihres Wirkens Gottes Werk sind. Hingegen sind die modernen Christen in Kirchengemeinden und in der kategorialen Seelsorge, etwa City- oder Schulpastoral, (kurz: "Aktivchristen") geneigt, auf ihre eigene Leistung im Namen Gottes zu bauen. Dies kann im komplexen Leben der Moderne zu Überforderung und Hoffnungslosigkeit führen. Die Frömmigkeit der NGG wirkt demgegenüber häufig naiv, aber auch entlastend und damit kompetentes Engagement fördernd. Das oft traditionelle Gesicht der Bewegungsfrömmigkeiten wirkt wiederum häufig als Hemmnis, wenn modern lebende Menschen dauerhaft gebunden werden sollen.

Visionen und Hemmungen

Die NGG leben aus Charismen, also aus den Gnadengaben des Heiligen Geistes, und haben eine Vision von Kirche und Welt, an der sie tatkräftig mitbauen. Das verleiht ihnen Kraft und Freude. Angesichts postmoderner Sehnsüchte nach klaren Lebenszielen und Einsatzfreude haben die kirchlichen Bewegungen gute Chancen, Gläubige zu gewinnen. Ihr Defizit liegt jedoch im mangelnden Bewusstsein für die strukturelle Problematik des modernen Fortschritts, die über die Moderne hinausweist und nicht hinter sie zurück. Die Visionen der aktivchristlichen Seelsorge orientieren sich hingegen an den Aufbrüchen des Zweiten Vatikanischen Konzils und haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder kirchenpolitischen Gegenwind erfahren. Außerdem ist ihr hohes kritisches Potential einer unbeschwert visionären Vorgehensweise gegenläufig.

Glaubenserfahrung und Theologie

Die Christen, die sich in den NGG engagieren, verknüpfen ihr Glaubenswissen mit ihren geistlichen Erfahrungen und üben ein, darüber offen und ehrfürchtig zu sprechen. Gemeindechristen vertiefen ihr Glaubenswissen oft theologisch und wissenschaftlich und messen kirchenpolitischen Denkverboten für ihr Glaubensleben wenig Bedeutung zu. Die NGG ihrerseits entwickeln teilweise in sich zusammenhängende Theologien aus der Perspektive ihres je eigenen Charismas. Es mangelt ihnen jedoch häufig an Interesse, ihre Ansätze wissenschaftlich zu differenzieren.

Die Macht des Heiligen Geistes

Die neuen kirchlichen Bewegungen leben eine ganzheitliche Spiritualität, die meist marianisch oder charismatisch geprägt ist. Diese ist in all ihrer Ambivalenz an die alte Volksfrömmigkeit gut anschlussfähig. Vielen Aktivchristen ist religiöses Brauchtum und Volksfrömmigkeit fremd geworden und kann dadurch auch den lebendigen Glauben nicht mehr befruchten. Mit der kreativen Macht des Geistes Gottes wird nicht mehr ernsthaft gerechnet. Die NGG haben die Kraft des Heiligen Geistes in ihrer Pneumatologie hingegen halbiert: In der marianischen Spiritualität ist die tröstende, bergende und schützende Seite des Geistes verortet, aber Sturm, Feuer und eine wirbelnde Kreativität fallen aufgrund des traditionellen Frauenbildes aus. In den katholisch-charismatischen Gruppen ist diese Seite des Geistes weitgehend gruppensozial verträglich gezähmt, oft auch amtlich-klerikal fokussiert.

Die Erfahrung von Gemeinschaft

Die NGG leben aus einer Gemeinschaftserfahrung, die der Volkskirche oft fehlt; zu groß und anonym sind die Pfarreistrukturen, zu unsicher die spirituelle Ausrichtung. Aber auch die Bewegungen schaffen die Balance zwischen Bindung und Freiheitlichkeit nur teilweise: Obwohl sie im Gegensatz zu den Orden und Säkularinstituten offene Bindungsformen über soziale Zugehörigkeit favorisieren, kehren ihnen auch Mitglieder nach einer gewissen Zeit den Rücken, wenn sie etwa geistig-soziale Enge erfahren. Oft beheimaten sich die Aussteiger dann im offeneren aktivchristlichen Raum, nicht ohne mit Wehmut an die verlorene Gemeinschaft zurückzudenken.

Schichten und Stände

Die Bewegungen vereinen wie die Volkskirche Menschen aller Altersstufen und sozialen Schichten. Ihnen gelingt es aber besser als den Pfarreien, die Priester einzubinden, ohne von deren spezifischem Amt weitgehend zu abstrahieren. Oft verbindet die gemeinsame Spiritualität so sehr, dass der Priester etwas Besonderes bleiben darf. Entsprechend bringen manche NGG beachtliche Zahlen an Priesternachwuchs hervor. Der Einsatz solcher Bewegungspriester in Pfarrgemeinden kann allerdings wegen der unterschiedlichen Spiritualitäten zu erheblichen Konflikten führen.

Beziehung zu Rom

Die NGG haben in ihrer Anfangszeit ihre kirchliche Anerkennung oft nur über lange leidvolle Prozesse errungen. Dafür können sie heute mit dem deutlichen Wohlwollen der römischen Kurie rechnen. Das aktivchristliche Segment, zumal der deutschen Kirche, ist dagegen häufig in jahrelange Konflikte mit Rom verstrickt. Ihre Einschätzung ist, dass ihre Loyalität in der Sache vom Vatikan oft nicht ausreichend geschätzt wurde. Traditionelle und moderne Vorstellungen von Communio, der gemeinsamen Teilhabe, scheinen oft unvereinbar. Die NGG haben mit traditionellen Gehorsamserwartungen kein grundlegendes Problem. Sie lassen jedoch heute zuweilen - oft im Gegensatz zu ihrer Gründungsphase - die Freimütigkeit vermissen, die untrennbar zum Gehorsam gehört.

Gebetsgruppen und Events

Die neuen Bewegungen kultivieren ihre beständige spirituelle Entscheidung im persönlichen Glaubensleben, in der Gemeinschaft und in öffentlichen Events. Sie stärken darin ihre Freude an Gott und ihre Überzeugung im Glauben. Die Aktivchristen kultivieren eher mit Katholikentagen und Unterschriftenaktionen die Rückbesinnung auf das Konzil. Insgesamt sind sie gegenüber der Eventkultur - im Bewusstsein der Problematik und historischen Schuld einer euphorisierten Masse der NS-Zeit - deutlich reservierter. Die NGG profitieren davon, dass postmoderne Menschen generell dem Event gegenüber sehr zugänglich sind. Die Gemeinschaften täuschen sich aber in der Hoffnung, dass die Erfahrungen von Events in eine alltägliche gläubige Praxis münden werden, sofern diese nicht schon vorher bestand.

Ökumene und Dialog

Die meisten NGG leben das ökumenische Zueinander der Christen und den interreligiösen Dialog ohne die oft als sehr schmerzlich erfahrenen institutionellen Grenzen zu überschreiten. Die Aktivchristen hingegen brechen häufig mit ihnen sowohl in theologischer wie in praktischer Hinsicht. Auf Zukunft gesehen wird es wohl beider Strategien bedürfen. Wichtig nach außen ist die Symbolik der angestrebten Einheit.

Von Maria Widl

Zur Person

Prof. Dr. Maria Widl ist Inhaberin des Lehrstuhls für Pastoraltheologie und Religionspädagogik der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Erfurt.