Gemeindereferentin: Pastorales Personal leidet unter Machtmissbrauch
"Ich bin hier der Chef und so läuft es" oder "Die gehört an die Wand gedrückt und mal ordentlich…" – Regina Nagel hat Machtmissbrauchserfahrungen von Gemeinde- und Pastoralreferentinnen und -referenten gesammelt und in einem Buch veröffentlicht. Ihr Fazit: Ihren Beruf kann sie niemandem mehr empfehlen. Im Interview berichtet die Vorsitzende des Gemeindereferent*innen-Bundesverbands über cholerische Pfarrer, Mobbing in der Gemeinde und Missachtung arbeitsrechtlicher Standards in der Pastoral.
Frage: Frau Nagel, Sie veröffentlichen ein Buch zum Machtmissbrauch im pastoralen Dienst. Wie kam es zu diesem Projekt?
Nagel: Das Buch basiert auf einer Umfrage des Gemeindereferent*innen-Bundesverbands. Wir verstehen uns als Sprachrohr von Kolleginnen und Kollegen, die von Machtmissbrauch betroffen sind. Auslöser war die MHG-Studie, die damals im viele von uns schockiert hat. Vor einem Jahr haben wir entschieden, eine bundesweite Umfrage unter Gemeinde- und Pastoralreferentinnen und -referenten zu verschiedenen Formen des Machtmissbrauchs durchzuführen. Daran haben sich 936 Kolleginnen und Kollegen beteiligt. Gut zwei Drittel davon benennen Erfahrungen mit Machtmissbrauch in der Kirche. Nach der Umfrage habe ich 30 Interviews geführt. Daraus stammen die erschütternden Beispielberichte im Buch.
Frage: Welche Erfahrungen machen pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Machtmissbrauch? Können Sie das zusammenfassen?
Nagel: Die zentrale Erfahrung von nicht geweihten Profis in der Seelsorge ist die strukturelle Zweitrangigkeit. Viele Kolleginnen und Kollegen werden in ihren Kompetenzen behindert und ausgebremst. Die Überschrift eines Berichts im Buch lautet: "Guten Tag, ich bin Frau NUR". Diese Verfasserin ist qualifiziert, engagiert und begeistert in den Seelsorgeberuf eingestiegen und musste erleben: Ohne Weihe bin ich immer eine "NUR".
Frage: Wie meinen Sie das?
Nagel: Viele leiden darunter, dass sie das System katholische Kirche in ihren Möglichkeiten ausbremst. Für Frauen wird das Problem besonders greifbar, weil sie von vornherein gar nicht die Chance haben, sich in die Gruppe der Kleriker hineinzubegeben. Geschlechtergerechtigkeit kennt das System Kirche nicht.
Frage: Machtmissbrauch in der Kirche ist also vor allem etwas Geschlechtsspezifisches?
Nagel: Ja, Seelsorgerinnen haben es besonders schwer, respektiert zu werden. Das benennen in der Umfrage nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Unabhängig von diesem Problem gilt für alle Seelsorgenden ohne Weihe, dass sie oft in der zuarbeitenden Rolle bleiben – zum Beispiel wenn sie die Hauptverantwortung für die Sakramentenkatechese haben. Bei der Feier selbst ist dann der Priester der, der den Gottesdienst leitet. Für viele Kolleginnen und Kollegen ist das auf die Dauer nicht zufriedenstellend.
Frage: Das ist aber durch geltendes Kirchenrecht gedeckt. Wieso fällt das unter das Label "Machtmissbrauch"?
Nagel: Bei manchen Vorkommnissen muss man mitbedenken, dass das ganze System unserer Kirche machtmissbräuchlich ist. Wenn zum Beispiel eine Gemeindereferentin genial predigen kann und der Pfarrer verbietet es ihr in der Eucharistiefeier, weil das Kirchenrecht sagt, dass Predigen ohne Weihe nicht geht, dann ist das kein Machtmissbrauch durch diesen Pfarrer, sondern es ist gedeckt durch eine machtmissbräuchliche Regelung des Systems. Wenn hingegen ein dienstvorgesetzter Pfarrer Mitarbeitende demütigt oder sie in ihren Kompetenzen oder auch ihrer Spiritualität nicht respektiert, eventuell sogar sexuell übergriffig wird, dann missbraucht er seine Macht, denn solche Verhaltensweisen sind weder kirchen- noch arbeitsrechtlich legitimiert. Viele Befragte erzählen von solchen Erlebnissen.
Frage: In ihrem Buch haben Sie verschiedene Arten von Machtmissbrauch herausgearbeitet.
Nagel: Wir haben etwa 15 Varianten des Machtmissbrauchs abgefragt. Dabei kam heraus, dass sich über 70 Prozent der Befragten, die Erfahrungen mit Machtmissbrauch gemacht haben, aktiv in ihren Kompetenzen behindert fühlen, zum Beispiel wenn einer Person mit langjähriger Erfahrung im Beerdigungsdienst vom neuen Chef dieser Arbeitsbereich entzogen wird und sie nur einspringen soll, wenn er gerade Urlaub macht. Da fallen dann schon mal Sätze wie: "Ich bin hier der Chef und so läuft es." Anderen werden Arbeitnehmendenrechte abgesprochen. Sie bekommen zu hören: "Ich arbeite ja auch 70 Stunden in der Woche." Manche Kolleginnen und Kollegen berichten von handgreiflichen sexuellen Übergriffen. Insgesamt 40 der über 900 Befragten haben diese Form der Missbrauchserfahrung benannt. Konfrontation mit sexistischen Sprüchen, wie zum Beispiel "Die gehört an die Wand gedrückt und mal ordentlich…" kommen noch deutlich häufiger vor. Noch mehr Kolleginnen und Kollegen berichten von spirituellem Missbrauch. Gerade im Umfeld von neuen geistlichen Gemeinschaften oder traditionalistischen Gruppen kann es schon mal vorkommen, dass jemand zu einer eher reformorientierten Gemeindereferentin sagt, sie solle doch mal nach Međugorje fahren oder endlich einen Alpha-Kurs machen, weil es ihr an Glauben fehle. Eine berichtet zum Beispiel, dass ihr Chef sie gefragt hat, wann sie eigentlich zum letzten Mal bei der Beichte war – bei ihm sei sie ja schließlich nicht gewesen. Das ist alles übergriffig, missbräuchlich und verstößt gegen Arbeits- und manchmal auch Menschenrechte.
Gehirnwäsche und Psychoterror: Missbrauch an Frauen in der Kirche
Lag bei der Missbrauchs-Aufarbeitung bislang der Fokus auf Vergehen an Minderjährigen, erheben nun 23 Frauen in einem Buch ihre Stimme. Im katholisch.de-Interview sagt Mitherausgeberin Barbara Haslbeck, wie perfide Kleriker ihre Macht ausnutzten.
Frage: Gibt es Machtmissbrauch nur durch Priester?
Nagel: Nein, und Machtmissbrauch betrifft auch nicht nur Laien und Laiinnen. Es gibt auch sehr viele Priester, die unter Kolleginnen und Kollegen, ihrem Bischof oder eben dem Gesamtsystem Kirche leiden. Aber uns geht es natürlich in erster Linie um unsere Verbandsmitglieder.
Frage: War die Frage des Machtmissbrauchs durch Gemeinde- und Pastoralreferenten auch ein Thema in der Umfrage?
Nagel: Es gibt ein paar, die benannt haben, dass die Umfrage sie sehr nachdenklich gestimmt habe im Hinblick auf eigene Verhaltensweisen. In jeder seelsorglichen Tätigkeit besteht die Gefahr, die spirituelle Selbstbestimmung anderer nicht ausreichend zu respektieren. Wenn ich selbst mein Berufsleben reflektiere, dann kommt mir die Vorbereitung von Kommunionkindern auf die Erstbeichte in den Sinn. Ich fand das schon vor 40 Jahren übergriffig und vor allem aus entwicklungspsychologischer Perspektive völlig daneben. Bei Elternabenden habe ich das angesprochen, die Mitarbeit in diesem Bereich habe ich jedoch nicht verweigert.
Frage: Spielen Dynamiken in der Gemeinde auch eine Rolle?
Nagel: Ja, Ehrenamtliche wurden auch genannt. Das wird sich möglicherweise noch verstärken: Je weniger Priester es gibt, umso stärker kann es passieren, dass zum Beispiel Pfarrgemeinderatsvorsitzende meinen, sie müssten jetzt alles bestimmen.
Frage: Wenn der Verdacht des Machtmissbrauchs im Raum steht: Wie sieht es mit Unterstützung Betroffener durch die Diözesen aus?
Nagel: In der Umfrage kam heraus, dass Personalverantwortliche die Situation oft begreifen, aber ihnen im System Kirche die Hände gebunden sind. Viele Kolleginnen und Kollegen bekommen dann gesagt "Wir wissen ja, dass vieles nicht in Ordnung ist, was der leitende Pfarrer macht, und dass es nicht so laufen dürfte. Aber wir finden keinen anderen, der bereit ist, diesen Seelsorgebezirk zu leiten." oder "Bleib doch noch ein Jahr oder zwei und dann wechsle; aber halte bitte noch eine Weile aus". In einigen, allerdings nicht in allen Personalabteilungen gibt es schon ein Verständnis, dass es vielen nicht gut geht. In der Regel wird allerdings am Ende der Pfarrer geschützt.
Frage: Was war Ihre größte Überraschung bei der Beschäftigung mit diesem Thema?
Nagel: Wirklich überrascht hat mich leider gar nichts. Nach 40 Jahren im kirchlichen Dienst kann einen nicht mehr viel überraschen. Sehr berührt haben mich die Begegnungen mit Betroffenen in den Interviews. Vor allem dann, wenn deutlich wurde, wie groß die psychische Belastung bis hin zu auch körperlichen Erkrankungen war oder noch ist. In einem Bericht erzählt eine Frau, wie sie mit 19 (in der Entscheidungsphase für den Beruf der Gemeindereferentin) sexuelle Übergriffe ihres Heimatpfarrers erleiden musste. Im Beitrag "In Krisenzeiten" erzählt eine Frau von ihren belastenden Erfahrungen mit Vorgesetzten im Sommer 2021. Sie war damals Gemeindereferentin in Orten, die heftig betroffen waren von der großen Flutkatastrophe. Erschütternd ist auch die Geschichte eines Kollegen, bei dem die Aktion #OutInChurch sehr viel aufgewühlt hat, auch wenn seine Geschichte nichts mit Queer-Sein zu tun hat.
Frage: Welche Folgen hat dieser Machtmissbrauch für die Betroffenen?
Nagel: Viele denken daran, zu gehen – oder sie sind schon gegangen. Engagierte Kolleginnen und Kollegen antworten heute auf die Frage, warum sie für die Kirche arbeiten manchmal nur noch: Weil ich damit meinen Lebensunterhalt verdiene. Es ist viel zerstört worden. Vielen fällt es zunehmend schwer, in dieser Kirche weiter in der Pastoral zu arbeiten. Einige bleiben, weil sie vor Ort merken, dass da Menschen sind, die sie brauchen. Einige werden aber auch ernsthaft krank. Andere suchen sich rechtzeitig eine Arbeit in der Kategorialseelsorge, dort sind sie manchmal etwas freier in ihrem Tun.
„Wirklich überrascht hat mich leider gar nichts. Nach 40 Jahren im kirchlichen Dienst kann einen nicht mehr viel überraschen.“
Frage: Warum hört man denn so wenig zu dem Thema?
Nagel: Ein Grund ist sicher die Sorge von Betroffenen, ob sie überhaupt gehört und ernst genommen würden. Ich befasse mich schon länger mit dem Betroffensein von Frauen durch Missbrauch. Wenn es um sexuelle Gewalt oder spirituellen Missbrauch geht, wird Frauen oft nicht geglaubt. Selbst an sich vernünftige Leute sagten schon zu mir "Die war doch erwachsen" oder "In dem Alter sollte man sich zu helfen wissen". Das erschreckt mich. Dabei wird übersehen, wie sehr man auch im Erwachsenenalter in ein Abhängigkeitsverhältnis hineinmanipuliert werden kann.
Frage: Sie sind seit 40 Jahren Gemeindereferentin. Wie schützen Sie sich vor Machtmissbrauch?
Nagel: Ich bin nach knapp 20 Jahren in der Territorialseelsorge in verschiedene Ämter wie die Mitarbeitervertretung gewählt worden, habe mir eine Zusatzqualifikation in Organisationsentwicklung erworben und habe dann noch Wirtschaftspsychologie studiert. Das hat mir im Beruf und nebenberuflich neue Möglichkeiten eröffnet, meine Kompetenzen einzubringen. Ich war allerdings auch lange schwerkrank und bin seit vier Jahren herztransplantiert. Manche meiner Ärzte fragten damals nach beruflichen Belastungen.
Frage: Was ist ihr Rat an pastorales Personal?
Nagel: Achtet auf eure Rechte! Gerade, wenn es um arbeitsrechtliche Fragen geht. Rund dreißig Prozent beklagen die Missachtung von Arbeitsrecht. Mitarbeitervertretungen können in solchen Fällen helfen. Darüber hinaus sind Berufsverbände Möglichkeiten, sich zu vernetzen und sich gemeinsam für etwas stark zu machen – so wie wir aktuell als Bundesverband gegen Machtmissbrauch im pastoralen Dienst. Wer Anliegen oder Fragen dazu hat kann meinen Co-Vorsitzenden Hubertus Lürbke und mich über die E-Mail Adresse machtmissbrauch@gemeindereferentinnen.de erreichen.
Frage: Sie haben den Beruf selbst gewählt – was sagen Sie im Austausch mit ihren Kolleginnen und Kollegen zu ihrer Wahl?
Nagel: Ältere, die in diesem Beruf leiden, ermutige ich, gut für sich selbst zu sorgen in ihren letzten Berufsjahren. Jüngeren, also allen unter 50, rate ich, einen "Plan B" zu haben, zum Beispiel ein Zweitstudium anzugehen oder was auch immer. Wenn überhaupt würde ich Interessierten den Beruf Pastoralreferentinnen und -referenten empfehlen. Ein Beruf auf Lebenszeit so wie bei mir wird es für Neueinsteigerinnen und Neueinsteiger wohl kaum mehr werden.
Frage: Was müsste sich ändern, damit Sie den Beruf wieder empfehlen können?
Nagel: Darüber soll ich in den nächsten Tagen bei einem Vortrag an der Katholischen Hochschule in Mainz vor Studierenden etwas sagen. Ich bin ehrlich: Ich weiß nicht, ob in der katholischen Kirche überhaupt eine Chance auf Reform besteht. Ändern müsste sich vor allem die klerikal-hierarchische Struktur und der Wahrheitsanspruch des Lehramts. Das sich diesbezüglich ernsthaft etwas tut, sehe ich nicht. Was unabhängig davon angestrebt werden sollte, wäre eine professionellere Personalführung und ein konsequenter Einsatz von pastoralem Personal nach Kompetenzen, auch was Führung und Leitung anbelangt. Solange jedoch das System so bleibt wie es ist kann ich den Beruf nicht guten Gewissens empfehlen.
Das Buch: Machtmissbrauch im pastoralen Dienst
Das Buch Machtmissbrauch im pastoralen Dienst. Erfahrungen von Gemeinde- und Pastoralreferent:innen ist ab heute erhältlich.