Mitbegründer der Befreiungstheologie: Gustavo Gutierrez wird 95
An diesem Donnerstag wird der peruanische Priester Gustavo Gutierrez 95 Jahre alt. Mit seinem vor rund 50 Jahren erschienenen Buch "Theologie der Befreiung" wurde er zum Mitbegründer und Namensgeber der Befreiungstheologie. Rückblickend gesehen steht das Buch des weltweit geachteten Kleine-Leute-Priesters für das Ende des üblichen kirchlichen Einbahnstraßenverkehrs zwischen Europa und dem Rest der christlich geprägten Welt. Denn erstmals entfaltete sich ein Austausch, gegenseitige Entwicklungshilfe geschah – weil vor Ort eine eigenständige Praxis und Theologie entstanden war.
In ihrem Mittelpunkt steht die "Option für die Armen". Neu dabei war, dass sich der christliche Glaube mit diesem Ansatz in der Geschichte verwurzelt; im Hier und Jetzt, orientiert an den Armen, den Opfern der Systeme – egal, ob rechts- oder linksdiktatorisch oder oligarchisch ausgerichtet. Ganz anders ist auch, dass nicht ein abstraktes religiöses Lehr- und Ideengebäude im Vordergrund steht, sondern das Bemühen der einfachen Menschen vor Ort, ihr Leben im Sinne des Evangeliums zu deuten. Es geht um Praxis, oder – um es theologisch zu sagen – Orthopraxie statt Orthodoxie.
Der Lebensweg nach der Schule begann in Europa
Gutierrez' persönlicher Lebensweg nach der Schule begann aber in Europa: Er studierte in Lyon, Löwen, Rom und Paris Medizin, Kunst, Philosophie, Psychologie – und dann auch Theologie, weil erst allmählich der Wunsch in ihm gereift war, Priester zu werden. Dominikaner ist er erst seit 1999. Der Eintritt in den Orden hat mit den Problemen zu tun, die ihm der frühere Erzbischof von Lima bereitete, der erzkonservative Kardinal Juan Luis Cipriani Thorne vom Opus Dei. Für Gutierrez war klar: lieber Schutz durch einen Orden, als weiter Cipriani ausgeliefert zu sein.
Trotz vieler Gastprofessuren und rund zwei Dutzend Ehrendoktortiteln weltweit, darunter die Unis in Tübingen und Freiburg: Immer wieder kehrte Gutierrez in seine Heimatstadt Lima zurück, lebte in den Armenvierteln, was seinem bescheidenen Lebensstil entsprach und wo er sich zu Hause fühlte. Seine wissenschaftliche Arbeit ging mit der Nähe zur Basis einher. So viel er forschte, so gern war er bei den Menschen in den Slums. Für ihn kommt Theologie "aus dem Herzen der Kirche", muss zugleich aber immer auch eine "Antwort auf gesellschaftliche Wirklichkeit" sein.
Der theologisch-wissenschaftliche Ansatz des Peruaners ist, die Lage der Armen und Ausgegrenzten ebenso wie die kirchliche Praxis "realitäts- und evangeliumsgemäß zu reflektieren". Dazu gehörte die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung Lateinamerikas, schon in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Gutierrez beschäftigte sich schon früh mit dem Problem: "Wie den Armen sagen 'Gott liebt Euch'? Das ist für unsere heutige Welt die bedeutendste Frage. Unmöglich, sie zu beantworten. Aber zur Antwort gehört, mit den Armen zu leben, einer von ihnen zu werden."
Sein Werk für die Geschichte hat er schon geschrieben
Gutierrez kann auch zu eigenen Fehlern stehen. Knapp 20 Jahre nach Erscheinen seiner "Theologie der Befreiung" hatte er die Größe, eine neue, teils "revidierte und korrigierte" Fassung dieses Stücks theologischer Weltliteratur zu veröffentlichen. Die Glaubenskongregation in Rom arbeitete sich an seinem Werk lange, aber am Ende ergebnisfrei ab. Nicht zuletzt, weil der frühere Chef der Vatikanbehörde, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, Gutierrez' Arbeit an der Basis sehr schätzte und sich in Rom für ihn stark machte.
Was die Wirkungsgeschichte angeht, ist der ausgesprochen klein gewachsene Mann mit dem markanten, oft lächelnden Gesicht ein Großer. Vieles, was in den vergangenen Jahrzehnten theologisch gedacht und gelehrt wurde, wurzelt in seinem systematischen Denken. Heute macht sich bei Gutierrez das Alter bemerkbar. Mit dem Gehen hat er Probleme. Versorgt und begleitet wird er im Alltag von Freunden in einer Basisgemeinde in Lima. Neue Bücher verfassen wird er mit 95 sicher nicht. Sein Werk für die Geschichte hat er schon geschrieben.