Kirche neben der Tradition: Fresh Expressions of Church
Jesus im Skaterpark? So oder ähnlich könnte man das beschreiben, was gerade in Luckenwalde passiert. Denn dort soll der Glaube auch abseits von Kirchenmauern Thema sein. Zum Beispiel an den Halfpipes der brandenburgischen Stadt. "Jesus in Luckenwalde", kurz "JiL" heißt das Projekt. Zusammen mit Sozialarbeitern geht ein Kirchenmitarbeiter direkt zu den Jugendlichen der Stadt und spricht mit ihnen unter anderem über Aids-Prävention, gestaltet Ferienspiele und jedes Jahr einen Skate-Contest. Kirche an einem Ort also, wo man sie sonst vergeblich sucht.
"JiL" ist Teil der sogenannten "Fresh expressions of church", einer Initiative ursprünglich aus der anglikanischen Kirche, die neue Ansätze wagen will. Aber nicht irgendwie, sondern mit einer der herkömmlichen Pfarreistruktur (noch) eher unbekannten Haltung.
Das Konzept der gern als "FreshX" abgekürzten "frischen Ausdrucksformen von Kirche" entstand 2003 in Großbritannien, im Jahr darauf wurden die FreshX als Teil der anglikanischen Kirche anerkannt. Der Name ist kein Zufall, er wollte zwischen dem neuen Ansatz und der Tradition vermitteln. Denn das Wort "afresh" findet sich auch im Ordinationsgelübde der anglikanischen Kirche.
Für verschiedene Kontexte
Einige Jahre später schrieb der Theologe Michael Moynagh eine Art Grundlegung der Bewegung und wählte ganz bewusst den Titel "Church for Every Context". Das war eher eine inhaltliche Bestimmung. Denn bei FreshX geht es darum, den Glauben in Lebenskontexte, soziale Gruppen und Gemeinschaften zu bringen, in denen er vorher nicht war. Das ist eine Antwort auf die in Großbritannien und in Deutschland schwindende Bindekraft von Kirche wie auch die Erkenntnis, dass klassische Gottesdienste und Sakramentsfeiern nur eine verschwindend kleine Teilmenge der Gläubigen erreicht, bei deutschen Katholiken knapp sechs Prozent. Bei FreshX geht es nun darum, auch die zu erreichen, die mit der klassischen Pfarreipastoral nicht erreicht werden.
Grundgedanke dabei ist, dass sich Kirchenmitarbeitende und Gläubige darüber klar werden, worauf sie eigentlich persönlich Lust haben und für was es in ihrem Umfeld überhaupt Interesse gibt. "Dafür müssen sie in den Gemeinschaften, für die sie etwas machen wollen, auch selbst wohnen", sagt Rolf Krüger, der für das FreshX-Netzwerk in Deutschland arbeitet. Die sogenannten Pionierinnen und Pioniere fragen die Menschen in ihrem Lebenskontext nach ihren Bedürfnissen und irgendwann auch nach Spirituellem. So sollen Aktionen entstehen, die nicht von außen vorgesetzt werden, sondern die sich an den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Zielgruppe orientieren"Wir wollen zu den Menschen, die nicht aus der bürgerlichen Mittelschicht kommen, die einen Migrationshintergrund haben", so Krüger. Dabei soll es auch darum gehen, Engaggierte einfach mal machen zu lassen. "Es geht nicht darum, zwar an die Leute zu kommen, die dann aber direkt in die Pfarreisysteme zu integrieren. Sie sollen ihren eigenen Glaubensweg gehen." Dabei ist auch nicht das Ziel, sie zum Gemeindegottesdienst zu "locken". Der Gottesdienst stehe sowieso erst recht am Ende, sagt Krüger. Zunächst sollten Aktionen entstehen und gefördert werden, parallel zur weiter bestehenden Pfarreiarbeit.
Das klingt oft außergewöhnlicher, als das Endergebnis ist. Immer häufiger entstehen auf diese Art etwa kirchliche oder gottesdienstliche Angebote für junge Familien; andernorts bedeutet das, zusammen in die Natur zu gehen – oder eben wie in Luckenwalde soziale Ungleichgewichte wahrzunehmen und Jugendlichen ein wertschätzendes Umfeld zu bieten. Der Unterschied zu ähnlichen Formaten der klassischen Pastoral: Hier reden die Leute, die kommen, auch mit. Sind nicht nur Empfangende, sondern Gestaltende. So jedenfalls die hochtrabende Theorie.
Hürden der Mittelschicht
Auf dem Weg dahin gibt es einige Hürden zu überwinden: An Menschen außerhalb des kirchlichen Kernspektrums überhaupt heranzukommen, ist zum Beispiel gar nicht so einfach – weil die bisherigen Angebote der Kirche auf die Mittelschicht zugeschnitten sind. Krüger bleibt aber optimistisch. "Das kann man nicht machen, das muss man geschehen lassen", sagt er. Dazu kommt die Frage, welche Angebote Kirche denn eigentlich unterstützen will. Wie viel Jesus muss es sein, um Platz in der Kirche und nicht nur etwa in einem Yoga-Studio zu haben? "Ich bin dafür, die Mitte zu prägen und nicht die Ränder abzustecken", erklärt Krüger.
Bei unseren westlichen Nachbarn in den Niederlanden ist man in Sachen FreshX schon ein gutes Stück weiter als hierzulande und das Portfolio ist relativ breit. Da gibt es beispielsweise Wellness-Studios, die sich nicht nur um die körperliche, sondern auch die geist(l)iche Wellness kümmern. Neue, alternative Formen des Mönchtums sind entstanden, die ihr eigenes Bier brauen – betont als hippe Marke – und so die neu entstandene Gemeinschaft finanziell am Leben erhalten.
"Die große Aufgabe ist, wirklich offen zu sein für Neues und ungewohnte Perspektiven zuzulassen", sagt Krüger. Dazu gehöre, auf die veränderte Gesellschaft zuzugehen. Es müsse eine gesunde Fehlerkultur her und Projekte bräuchten Zeit, um sich zu entwickeln. Weiterhin sollte es auch möglich sein, gewisse Gemeinschaftsformen auf Zeit zuzulassen und ein Ende eines Projekts nicht nur in erster Linie als Scheitern anzusehen.
Eingeschränkt langlebig
Deshalb will Krüger bei jedem neuen Projekt – auch denjenigen, die finanziell gefördert werden – von Anfang an mitdenken, was denn nach dem Ende eines Förderzeitraums, also beispielsweise nach drei Jahren geschehen soll. "Die Projekte müssen möglichst bald auf eigenen Füßen stehen, sonst sind sie nicht nachhaltig", sagt er. Deshalb gibt es neben der Förderung mit Geld auch immer häufiger Förderungen in Form von Kursen oder Coachings, damit dauerhafte Ressourcen aufgebaut werden. Die Kirchensteuer ist dabei Segen und Fluch zugleich: Einerseits macht sie es überhaupt möglich, innovative FreshX-Projekte zu fördern. Andererseits sind viele Gläubige in Deutschland aber nicht bereit, über die Kirchensteuer hinaus Geld zu geben, etwa in Form von Spenden.
Auch auf anderer Ebene stellt sich die Frage, wie zukunftsträchtig FreshX ist. Denn an dem Ansatz gibt es vielfältige Kritik. Dazu gehören beispielsweise Fragen der Ekklesiologie: Denn die Kirche – insbesondere wenn sie sich "katholisch" nennt – will alle Menschen unter einem Dach versammeln. Ob das auch mit dem Glaubensleben in den voneinander abgegrenzten Kontexten gelingt, ist zweifelhaft. So argumentieren etwa die Theologen Andrew Davison und Alison Milbank in ihrem Buch "For the Parish: A Critique of Fresh Expressions", dass es für die Katholizität, also diesen verbindenden Charakter der Kirche, notwendig sei, dass alle Kirchenteile miteinander verbunden sind, auf Grundlage der Pfarrei als lokalem Ausdruck von Kirche. Verteidiger von FreshX halten dagegen, dass dieses Bild von Pfarrei sehr idealtypisch sei, denn auch dort seien keineswegs alle Untergruppen miteinander verbunden.
Um diese Verbindung geht es auch mit dem Blick auf die FreshX-Bewegung an sich. So stellt der Elstaler Theologe Oliver Pilnei fest, dass die theologischen Grundlagentexte der FreshX-Bewegung "nicht so homogen sind, wie es die Selbstdarstellung der Bewegung in der Öffentlichkeit vermuten lässt". So fänden sich in den Papieren ekklesiologische Akzente, "die FreshX-Projekte eindeutig an eine kirchliche Sakramentspraxis und das autorisierte kirchliche Amt binden; eine Maßgabe, die sich in vielen Projekten nur ansatzweise bis gar nicht spiegelt".
Ekklesiologische Fragen
Die FreshX-Bewegung im Vereinigten Königreich antwortet auf Kritik wie diese, der Apostel Paulus habe, vom Geist geleitet, in Synagogen, Werkstätten und Privathäusern gepredigt – überall dort könne Kirche sein. Zudem sei man eine ökumenische Bewegung, in der "Spielraum für jede Konfession und Tradition und deren eigene Ekklesiologie gelassen werden muss". Vielleicht sei das der Grund, "warum einige Kritiker die Ekklesiologie von Fresh Expressions als wischiwaschi betrachten".
An Zuspruch scheint es dagegen nicht zu mangeln. So heißt es in einem Bericht der Church Of England aus dem Jahr 2020, dass die Zahl der Initiativen zwischen 2014 und 2019 um 25 Prozent gestiegen sei. Zudem steige deren Zulauf und Gläubigenzahl – um elf Prozent zwischen 2014 und 2019. Drei Viertel der Initiativen geben an, dass dort Leute mitmachten, die noch nie an einer anderen Form von Kirche teilgenommen hätten.
In Deutschland ist es noch lange nicht so weit – und die Bewegung glänzt eher mit Optimismus. Das eine, große Ziel gibt es hier hinter FreshX nicht. Keine Besucherzahlen, keine Projektlängen. Es ist viel Idealismus im Spiel, sogar die Hoffnung, den Trend des Kirchenschwunds vielleicht eines Tages umzukehren. Beim Blick auf die Landkarte mit den kleinen Einzelprojekten, die bundesweit gestreut sind, zum Teil nur eines in einer Stadt, scheint diese Hoffnung auch bitter notwendig. Die Kirche und mit ihr den Glauben interessant zu machen, bleibt eine Aufgabe für Langmütige. Und die finden sich auch im Luckenwalder Skaterpark.