Pollack: Die CDU muss den Kulturkampf gegen die Grünen herunterfahren
Soll sie oder soll sie nicht? Die CDU diskutiert nach Äußerungen ihres Vorsitzenden Friedrich Merz im ZDF-Sommerinterview darüber, wie weit die "Brandmauer" zur AfD gilt – und wo Pragmatismus gefragt ist. Auf Landes- und Bundesebene könne es keine Zusammenarbeit geben. Wenn es einen Landrat oder Bürgermeister von der AfD gebe, müsse "dann auch nach Wegen gesucht werden, wie man gemeinsam die Stadt, das Land, den Landkreis gestaltet", so Merz. Dafür hatte er auch aus Unions-Reihen viel Kritik bekommen und relativierte seine Aussage. Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack forscht schon lange zu den Themen Religion und Politik sowie zur Situation in den östlichen Bundesländern. Im Interview spricht er über forcierte Kulturkämpfe und womöglich nachhaltige Fehler in der politischen Arbeit in Berlin.
Frage: Herr Pollack, das Verhältnis zwischen CDU zur AfD wird in der Union gerade kontrovers diskutiert. Zwischen klarer Abgrenzung und der Mahnung zum Pragmatismus ist vieles dabei. Gemeinsame Abstimmungen auf kommunaler Ebene gibt es im Osten schon lange. Ist diese Diskussion symptomatisch für die Lage der Christdemokratie?
Pollack: Prinzipiell gilt, dass es keine Zusammenarbeit gibt und dass man sich abgrenzt und versucht, eine Brandmauer gegenüber der AfD aufzurichten. Dass das pragmatisch nicht durchzuhalten ist, ist offensichtlich. Man sollte das in meinen Augen aber nicht hochspielen. Das ist momentan der Fehler der anderen demokratischen Parteien. Ich denke da etwa an eine Äußerung von Claudia Roth von den Grünen, die das politisch auszunutzen versucht. Wenn sie sagt, dass man die AfD verharmlost, wenn man nur zugibt, dass man auf der kommunalpolitischen Ebene irgendwo auch gemeinsam gestalten muss, dann macht sie genau diesen Fehler: Sie zieht pragmatische Positionen in einem Kulturkampf hinein, diesmal den Kulturkampf der grün-alternativen Linken gegen die Konservativen. Ihre Argumentation lautet: Wenn die Brandmauer erst einmal Löcher hat, wird es bald zu einem Dammbruch kommen. Das ist ein ganz schlechtes Argument und die falsche Weise des Umgangs mit den Problemen, die wir mit der AfD haben.
Frage: Andererseits hat der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz mit Blick auf seine Partei von einer "Alternative für Deutschland mit Substanz" gesprochen. Zuvor hatte er arabischstämmige Schüler "kleine Paschas" genannt und gesagt, dass Homosexualität in Ordnung sei, "solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft" Er spielt doch auch mit dem Vokabular der AfD und damit ihr auch in die Hand.
Pollack: Das ist richtig. Es ist aber etwas völlig anderes, pragmatisch zu argumentieren, als die AfD sprachlich zu imitieren. Das macht die AfD tatsächlich nur stark. Wogegen ich mich aber richte, ist, dass man diesen unausweichlichen Pragmatismus von der anderen Seite kulturkämpferisch nutzt.
Frage: Die AfD besetzt auch einige ursprünglich konservative Themen wie etwa ein traditionelles Familienbild, das einen christlichen Ursprung hat. In Sachsen – lange Zeit eine CDU-Hochburg mit konservativer Bevölkerung – wird mittlerweile eher AfD als CDU gewählt. Aber nicht nur dort. Wie schafft es die AfD, ein Fünftel der Menschen in Deutschland zu potenziellen Wählern zu machen?
Pollack: Ein ganz wesentlicher Faktor für ihre Popularität im Osten, aber zum Teil auch im Westen ist eine Affektlage: das Gefühl, nicht gehört zu werden. Manche Politiker, aber auch Intellektuelle wie Dirk Oschmann bedienen diese Gefühle und bestätigen sie. Ein Unbehagen mit der Moderne lässt sich so auf die einfache Formel herunterstutzen: Die Regierung ist schuld, die demokratischen Parteien sind schuld – und es gibt eine Alternative. Damit kann man der eigenen Empörung Ausdruck verleihen. Wenn das dann viele Menschen tun, verstärkt sich dieser Effekt noch, weil man sich in einer Gemeinschaft wähnt. Dazu kommt: Die AfD-Wähler im Osten sind vor allem jung und männlich. Es geht also auch um Geschlechterfragen. Die gut gebildeten jungen Frauen sind weggezogen. Das erzeugt bei diesen Männern Frustration. Da spielt auch hinein, dass sich Menschen in Regionen, aus denen die Menschen wegziehen, zu kurz gekommen fühlen. In solchen Regionen, im Osten wie im Westen, ist die AfD daher oft stark. Was klar ist: Mit der ökonomischen Situation der Menschen hat das wenig zu tun. Das zeigt allein das Beispiel Sonneberg. Dort geht es den Menschen gut. Trotzdem gibt es dort jetzt einen AfD-Landrat.
Frage: Wie spielen da konservative Themen hinein?
Pollack: Die AfD hat gewisse konservative Themen wie Familie und Nation von den Unionsparteien übernommen. Ich sehe da aber eine Kluft, geradezu ein Vakuum zwischen dieser Instrumentalisierung von konservativen Themen und einer wirklich konservativ begründeten bürgerlichen Position. Leider verkämpft sich die Union an der falschen Stelle. Friedrich Merz hat die Grünen zum Hauptgegner ausgerufen. Das spielt der AfD in die Hände, weil die demokratischen Parteien sich wechselseitig bekämpfen und auf diese Weise der Eindruck entsteht, sie seien sich völlig uneins und schafften ihre Arbeit nicht.
Frage: Wie könnte denn eine christliche, konservative Antwort darauf aussehen?
Pollack: Indem die CDU diesen Kulturkampf gegen die Grünen herunterfährt und sich um die großen und zentralen Herausforderungen unserer Gegenwartsgesellschaft kümmert: Klimakrise, Migration, soziale Ungerechtigkeit. Da kann man gut begründete konservative Positionen entwerfen, die überzeugend sind. Es ist etwa gar nicht schwer für eine CDU, für die Bewahrung der Schöpfung einzutreten. Das ist ein urchristliches Anliegen. Aus christlicher Motivation für die Würde des Menschen einzutreten, Maß zu halten und die individualistischen Interessen an Konsum und Selbstverwirklichung zurückzunehmen – das alles sind in der christlichen Tradition ganz entscheidende Werte! Da gibt es viele Motive, mit denen man eine Politik für die großen Herausforderungen unserer Zeit machen kann und die anschlussfähig für konservative Wählerinnen und Wähler ist.
Frage: Auch erfolgreich?
Pollack: Die Geschichte zeigt es: Notwendige Reformen werden dann durchsetzbar, wenn sie gewissermaßen von der "falschen Seite" betrieben werden. Denken wir an die Agenda 2010. Es war die Sozialdemokratie, die diese Politik auf den Weg gesetzt hat. Deshalb konnte sie umgesetzt werden. Das gilt in der Geschichte immer wieder: Konservative Parteien müssen sich für liberale Ideen einsetzen, damit auch die noch konservativeren Ränder für diese Ideen gewonnen werden können. Das gilt auch mit Blick auf die AfD. Die CDU hat eigentlich ein Momentum und sie nutzt es nicht.
Frage: Die Union geht einen anderen Weg, der laut der Meinung verschiedener Experten und der empirischen Daten falsch ist: Sie biedert sich dem Populismus an.
Pollack: Das kann ich auch nicht verstehen. Ich würde es damit erklären, dass sich gewisse Spielregeln in die Politik eingeschlichen haben, die ihr nicht guttun. Friedrich Merz spielt damit, den Slang der AfD zu imitieren und sich um jeden Preis von der Regierungskoalition abzugrenzen. Das ist alles der Politikstil der 1980er Jahre. Da bleibt nur zu hoffen, dass jüngere Politiker in der Lage sind, aus einer konservativen Position heraus innovativ zu sein. Das liegt eigentlich in der Kultur des Konservatismus: Der Konservatismus entstand im 19. Jahrhundert in Reaktion auf die exzessiven Übertreibungen der Französischen Revolution, also in Reaktion auf einen exzessiven Liberalismus und einen exzessiven Freiheitskampf, der in den Terror hineingeführt hat. Der Konservatismus sagte darauf: Man kann nicht individuelle Freiheit verabsolutieren, sondern es muss an bestimmten Stellen die gesellschaftliche Ordnung bewahrt werden. Das ist sozusagen der Grundimpuls des Konservatismus und für dieses Motiv gibt es auch in der Gegenwart gute Gründe.
Frage: Wenn die CDU das nun alles macht und den Themenfokus auf soziale Gerechtigkeit und den Klimawandel legt, gibt es da doch bereits mit der SPD und den Grünen Parteien, die das schon besetzen. Wie soll sie da ihr Profil schärfen?
Pollack: Ich würde nicht sagen, dass man sich an allen Stellen abgrenzen muss. Das Besondere der Christdemokratie besteht darin, dass man aus einer ureigenen konservativen Identität heraus Gründe für den Klimaschutz, für Maßhalten oder gegenseitigen Respekt entwickelt. Die für die CDU typische Orientierung an Wachstum und am Ausbau der Industrie müsste man damit verbinden. Das wäre dann vielleicht auch gegenüber den Grünen ein Unterscheidungsmerkmal.
Frage: Lassen Sie uns den Blick aufziehen: Das Problem der konservativen Identitätssuche scheint es nicht nur in Deutschland zu geben, sondern auch in Polen und etwa nach den jüngsten Wahlen in Spanien und weiteren europäischen Ländern.
Pollack: Das würde ich auch so sehen: Die rechtspopulistische Vox in Spanien ist nur so stark geworden, weil sich das konservative Lager ihr angebiedert hat. In Polen sind die Rechten sogar Regierungspartei. Dort ist die Lage eine andere: Es gibt dort gesamtgesellschaftlich eine Entwicklung in Richtung Liberalismus, Individualisierung, Selbstverwirklichung und damit eine scharfe Differenz zwischen den Älteren und den Jüngeren in ihren politischen und religiösen Einstellungen, eine scharfe Differenz auch zwischen Stadt und Land. Das macht die polnische Gesellschaft zu einer hoch gespaltenen Gesellschaft. Im Augenblick können die Nationalkonservativen ihr Lager noch zusammenhalten, weil sie die Differenz zu den Andersdenkenden, zu den Liberalen, überbetonen. Langfristig wird aber die Opposition immer stärker, weil sich die Gesellschaft ändert. Darauf reagieren die Nationalkonservativen schon jetzt mit einer Kulturkampf-Attitüde, etwa gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frauen oder den Umgang mit sexueller Vielfalt.
Frage: Steht Europa also ein forcierter Kulturkampf ins Haus?
Pollack: Auch in Deutschland haben wir Tendenzen der Polarisierung, aber sie sind längst nicht so ausgeprägt wie etwa in Polen, Spanien oder den USA. Das ist ein wichtiger Befund. Es gibt etwa bei der Migrationsfrage Teile der Bevölkerung, die sich polarisieren, aber das ist nie mehr als ein Drittel. Die Mehrheit, das ist wichtig zu sehen, ist nicht gespalten, sondern kann sich auf bestimmte Positionen einigen. Dass man etwas gegen die Klimakrise tun muss, ist für 70 Prozent aller Menschen in Deutschland Konsens, die Demokratie ist für 80 Prozent die beste Staatsform – auch im Osten. Natürlich gibt es Unzufriedenheit, mit der Regierung und mit Parteien etwa. Aber im Grundsatz ist man sich in Deutschland in Vielem einig. Indem einzelne politische Akteure wie Roth oder Merz diese schwache Polarisierung aber hochspielen, bringen sie einen Kulturkampf in die Bevölkerung, der dort in weiten Teilen gar nicht geführt wird. Damit machen sie viel kaputt: Die größte Gefahr für eine Demokratie ist es, wenn sich demokratische Parteien wechselseitig bekämpfen. Dann können Demokratien tatsächlich untergehen. Das war auch historisch immer wieder der Fall. Man kann die Verhältnisse zwar heute nicht mit denen der Weimarer Republik vergleichen. Doch damals war das ein entscheidender Faktor.