Gravierende Vorwürfe gegen bedeutendsten Sozialbischof Deutschlands

Ruhrbischof, Kardinal – und Missbrauchstäter? Hengsbachs tiefer Fall

Veröffentlicht am 19.09.2023 um 14:46 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Essen/Paderborn ‐ Franz Hengsbachs Platz in der Geschichte schien festzustehen: Freund der Bergleute, Gründer des Ruhrbistums, engagiert für Lateinamerika und in der deutsch-polnischen Aussöhnung. Seine Bilanz im Umgang mit Missbrauch war schlecht, aber zeittypisch – dass er selbst Täter sein könnte, ändert nun alles.

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Vor dem Essener Dom steht eine bunt angemalte Bronzestatue von Kardinal Franz Hengsbach. Zu Füßen des ersten Bischofs des Ruhrbistums spielen Wolf und Lamm, das Lamm schmiegt sich an den kopfüber liegenden Wolf. Beim alttestamentlichen Propheten Jesaja stehen Wolf und Lamm für die Hoffnung auf eine versöhnte Schöpfung. Die Künstlerin Silke Rehberg verwies damit auf die Gegensätze, die von Hengsbach versöhnt wurden: Wie kein Zweiter war er ein Bischof der Arbeiter, stets um den sozialen Ausgleich bemüht. Er stand für die katholische Soziallehre und ihre Suche nach Sozialpartnerschaft statt Klassenkampf. Theologisch konservativ, war Hengsbach in der Gesellschaft als Vermittler geschätzt und geachtet.

Mit dem Wissen von heute kann die Statue auch anders gelesen werden: Wie ein dunkler Schatten liegt der Wolf unter dem Kardinal. Für eine "Entmythologisierung" des Ruhrbischofs hatte schon 2017 der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer geworben. Nicht nur als Lichtgestalt hatte Pfeffer ihn als junger Theologiestudent erlebt, sondern auch als gefürchteten Übervater, gegenüber dem man besser nicht als zu modern galt. Großen Persönlichkeiten könne man nur gerecht werden, wenn man über ihre Ambivalenzen redete.

Die Hengsbach-Statue vor dem Essener Dom.
Bild: ©Roland Weihrauch/dpa (Archivbild)

2011 wurde eine Statue für den ersten Bischof des Bistums Essen eingeweiht. Die Skulptur der Künstlerin Silke Rehberg wurde von Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck und Vertretern der Essener Wirtschaft vor dem Essener Dom enthüllt.

Was nun ans Licht kommt, sind mehr als Ambivalenzen: Drei Vorwürfe sexuellen Missbrauchs machte das Bistum Essen am Dienstag öffentlich. Laut dem Bistum wurde die Veröffentlichung durch eine Meldung einer Person im vergangenen Oktober ausgelöst. 1967 habe sie einen sexuellen Übergriff durch Hengsbach erlitten. Bischof Franz-Josef Overbeck sei im März darüber informiert worden und veranlasste weitere Nachforschungen. Vor der Gründung des Bistums Essen im Jahr 1957 war Hengsbach Weihbischof in Paderborn. In den Akten der Erzdiözese fand sich ein Vorwurf, der 2011 erhoben wurde: Franz Hengsbach soll gemeinsam mit seinem Bruder Paul in den 1950er Jahren eine minderjährige Jugendliche sexuell missbraucht haben. Zum Bruder liegt dem Erzbistum eine weitere Meldung vor. Weitere Angaben dazu gab es zum Schutz der Betroffenen nicht aus Paderborn.

Dritter beschuldigter Bischof in Deutschland

Vertuscht haben in der Vergangenheit die meisten Bischöfe, wie Studie um Studie zeigt: Kardinal Joachim Meisner, Kardinal Karl Lehmann, Erzbischof Robert Zollitsch sind die prominentesten und zugleich besonders schweren Fälle. Kardinal Franz Hengsbach ist der bislang ranghöchste Kleriker, dem in Deutschland selbst Missbrauch vorgeworfen wird. Fast genau im Jahrestakt sind in den letzten Jahren die Nachrichten erschienen: Vorwürfe gegen den Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen (1907–1988, Bischof von 1957 bis 1982) konnten knapp 40 Jahre nach seinem Tod nicht mehr aufgeklärt werden, wie der Abschlussbericht der Untersuchung im Herbst 2021 feststellte. Im Spätsommer 2022 legte eine unabhängige Untersuchung übergriffiges Verhalten und mutmaßlichen Missbrauch durch den früheren Adveniat-Geschäftsführer und Bischof Emil Stehle offen. Stehles Tätigkeit bei Adveniat fällt in Hengsbachs Zeit als Vorsitzender des Hilfswerks. Im Untersuchungsbericht zu Adveniat und der dort angesiedelten Auslandspriester-Koordinationsstelle Fidei Donum gibt es zu möglichem Fehlverhalten Hengsbachs keine Anhaltspunkte.

Bild: ©KNA (Archivbild)

Emil Stehle war Hauptgeschäftsführer des katholischen Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat. Er starb am 16. Mai 2017. Nachdem er in der Hildesheimer Missbrauchsstudie beschuldigt wurde, brachte eine Aktenuntersuchung ein System von Missbrauch und Vertuschung ans Licht.

Auch in der im Frühjahr veröffentlichten Essener Missbrauchsstudie gab es noch keine Hinweise auf Taten von Hengsbach selbst. Die knappe biographische Notiz mit der Zusammenfassung des Umgangs mit Missbrauch in seiner langen Amtszeit attestierte ihm im Vergleich zu anderen Bischöfen seiner Generation keine Auffälligkeiten. Hinweise auf Tatverschleierungen oder aktiven Täterschutz, die über das zeittypische Verhalten von Verantwortlichen in der katholischen Kirche hinausgehen, konnte die Studie nicht finden. Ebenso zeittypisch wurde das völlige Fehlen einer betroffenenorientierten Haltung bewertet. Festgeschriebene Regeln zum Umgang mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch Kleriker gab es in seiner Zeit nicht. Dass die meisten verzeichneten Fälle der Studie – 89 – in seine Amtszeit fallen, liegt vor allem an deren Dauer: Von 1958 bis in sein Todesjahr 1991 war er Bischof des Ruhrbistums.

Mit Triumph als Ruhrbischof inthronisiert

Die Fundamente für seinen Ruf legte der charismatische Kleriker schon vor seiner Essener Zeit. Das älteste von acht Kindern aus einer Bauernfamilie wurde Priester, seine erste Stelle als Vikar hatte er in der Gemeinde St. Marien in der Bergarbeitersiedlung Herne-Baukau ab 1937. Trotz des Verbots der Behörden hielt er an der Seelsorge für die dort lebenden Polen auch nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf das Nachbarland aufrecht. Bereits als Paderborner Weihbischof entschied er sich dafür, keinen Edelstein, sondern Steinkohle in seinem Bischofsring verarbeiten zu lassen. Nach dem Krieg organisierte er die ersten Katholikentage, er war Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, dessen erneuertes Statut und dessen Gestalt er wesentlich mit entwarf, und leitete das Seelsorgeamt in Paderborn.

Kardinal Franz Hengsbach, Bischof von Essen, an einem Kohletransportband in Bottrop im November 1986
Bild: ©KNA (Archivbild)

Unter Tage fühlte sich Hengsbach in seinem Element: an einem Kohletransportband in Bottrop im November 1986.

Seine Inthronisation als Bischof von Essen am 1. Januar 1958 glich einem Triumphzug. 15.000 Menschen begrüßten den ersten Ruhrbischof nach dem Gottesdienst im Dom. Hengsbach zeigte sich als Mann des Volkes, als "Kumpel Bischof": "Ich bin nun vor Ort gegangen. In Gottes Namen wollen wir die erste Schicht verfahren. Glück auf!" Immer wieder sollte er in seiner Amtszeit auch selbst in den Schacht fahren, bei den Bergleuten unter Tage fühlte er sich wohl. Früh erkannte er den Strukturwandel, der auf das Ruhrgebiet zukam, und machte es zu seiner Sache, die sozialen Folgen für die Bergleute abzufedern. "Die Kirche darf nicht wie ein stummer Hund dastehen, wenn es um die Rechte der Menschen geht", sagte er. Mit den Kanzlern Konrad Adenauer und Ludwig Erhard rang er um Arbeitsplätze und kämpfte für den "Kohlepfennig" als Sonderabgabe für das Ruhrgebiet. Altkanzler Helmut Schmidt nannte Hengsbach in seiner Autobiographie den wichtigsten Menschen des Ruhrgebiets.

Bauboom und Weltkirche

Weniger vorausschauend als seine Sozialpolitik war seine Baupolitik: In den ersten zehn Jahren seiner Amtszeit ließ er fast hundert Kirchen bauen. Die Leute sollten zu Fuß zur Kirche gehen können, jedem Arbeiter sollte "die Kirche neben's Bett gesetzt" werden. Schon damals ließ sich ausrechnen, dass nach dem Ruhestand der damaligen Kleriker-Generation viele der neuen Kirchen ohne einen eigenen Pfarrer würden auskommen müssen.

1961 gründete er das Bischöfliche Hilfswerk Adveniat mit, das heute noch seinen Sitz in Essen hat und für die lateinamerikanischen Länder zuständig ist. Im selben Jahr wurde er Militärbischof. Ein Jahr zuvor hatte ihn Papst Johannes XXIII. in die Konzilsvorbereitungskommission für Laienarbeit berufen. Während des Konzils engagierte er sich in der deutsch-polnischen Kontaktkommission, die den Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen 1965 vorbereitete, ein Meilenstein in der Aussöhnung. Später wurde Hengsbach zum Mitglied der Kleruskommission berufen. Die Krönung seiner kirchlichen Karriere war die Erhebung zum Kardinal durch Johannes Paul II. im Jahr 1988.

Von links nach rechts: Dompropst Ferdinand Schulte Berge, Kardinal Karol Wojtyla, Bischof Franz Hengsbach, Stanislaw Dziwisz.
Bild: ©Bistum Essen/Wilhelm Bettecken (Archivbild)

Der Krakauer Kardinal Karol Wojtyla war 1978 zu Besuch bei Bischof Franz Hengsbach in Essen, kurz vor dem Tod von Papst Johannes Paul I. Keine zehn Jahre später sollte Wojtyla als Papst ins Ruhrbistum zurückkehren.

Die beiden Kirchenmänner standen sich über Jahrzehnte nah: Schon als Erzbischof von Krakau kannte der damalige Kardinal Karol Wojtyla Hengsbach. Kurz vor der Papstwahl besuchte Wojtyla Hengsbach noch in Essen, neun Jahre später kam er als Papst zurück ins Ruhrgebiet. Wie Johannes Paul II. war Hengsbach sozial fortschrittlich und theologisch konservativ. Hengsbach teilte die Skepsis gegenüber der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und ihren marxistischen Einflüssen. Ein Jahr vor seiner Kardinalserhebung entzog er der Theologin Uta Ranke-Heinemann die kirchliche Lehrerlaubnis, die das Dogma der Jungfrauengeburt in Frage gestellt hatte.

Dass es neben diesem strahlenden öffentlichen Bild noch eine ganz andere Seite Hengsbachs zu geben schien, ahnte bis jetzt außer den Betroffenen kaum jemand. Die ersten Anschuldigungen 2011 wurden entweder später zurückgezogen – auf eigene Initiative, betont das Bistum – oder als unplausibel bewertet. Die Paderborner Akten vermerken allerdings, dass die mutmaßliche Betroffene sich an die äußeren Umstände genau erinnere. Der 2018 verstorbene Bruder Paul Hengsbach konnte noch befragt werden. Er stritt die Vorwürfe vehement ab, teilte das Erzbistum Paderborn mit.

Erzbistum hatte Plausibilität zunächst bestritten

Heute zeigt man sich in Paderborn selbstkritisch darüber, dass man nach dem in Rom bei der Glaubenskongregation eingestellten Verfahren den Vorwürfen keine Plausibilität zugemessen hat – bei beiden Hengsbach-Brüdern. "Aus heutiger Perspektive und nach erneuter Prüfung des Personalaktenbestands von Paul Hengsbach, die mittlerweile auch durch Mitglieder der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Erzbistum Paderborn erfolgt ist, muss die damalige Plausibilitätsbeurteilung leider deutlich in Frage gestellt werden", heißt es in der Mitteilung. Ein weiterer Vorwurf gegen Paul Hengsbach im Jahr 2010 sei ebenso wenig für plausibel gehalten worden, erst 2019 und 2022 wurden der betroffenen Person gegenüber Anerkennungsleistungen ausgezahlt. Die Vorwürfe der beiden betroffenen Frauen seien nicht in Verbindung gebracht worden.

Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck wurde 2011 vom Erzbistum Paderborn informiert. Handlungsbedarf sah er damals nicht: "Aufgrund der Zuständigkeit der Kongregation für die Glaubenslehre sah ich den Vorgang als bearbeitet an, zumal mir mündlich mitgeteilt worden war, dass die Glaubenskongregation den Vorwurf als nicht plausibel bewertet hatte", schreibt er in einer persönlichen Stellungnahme. Erst der jüngste Vorwurf führte dazu, dass die verschiedenen Vorgänge miteinander verknüpft wurden und Overbeck sich für den Gang an die Öffentlichkeit entschied – sichtlich eine schwere Entscheidung angesichts der Bedeutung Hengsbachs für die Geschichte des Ruhrbistums, wo heute Häuser, Straßen und Plätze nach ihm benannt sind. Overbeck sei sich bewusst, was diese Enthüllung bei den Menschen auslösen werde, die "Kardinal Hengsbach als geschätzten Gründerbischof unseres Bistums in Erinnerung haben". Er wolle aber in allen Schritten die Perspektive der Betroffenen in den Blick nehmen.

Erste Reaktionen von Betroffenenverbänden sind skeptisch. Die Initiative "Eckiger Tisch" wirft der Kirche eine verzögerte Aufklärung vor. "Wenn es stimmt, dass die ersten Beschuldigungen bereits 2011 erhoben wurden, dann wurde die Öffentlichkeit zwölf Jahre darüber im Unklaren gelassen, um nicht zu sagen hinters Licht geführt", sagte der Sprecher der Initiative, Matthias Katsch. Er forderte den nordrhein-westfälischen Landtag erneut auf, eine unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen, um die Vorgänge in den katholischen Bistümern des Landes zu untersuchen: "Oder wollen wir warten, bis die letzten Opfer tot sind?"

Von Felix Neumann

Im Wortlaut: Stellungnahme von Bischof Franz-Josef Overbeck

"Ich hoffe, dass es uns bei allen Schritten, die jetzt anstehen, vor allem gelingen wird, stets die Perspektive der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen", hebt Bischof Overbeck hevor. Da nicht auszuschließen ist, dass es weitere Missbrauchsbetroffene gibt, ruft Overbeck Betroffene auf, sich zu melden: "Sollten Sie selbst sexualisierte Gewalt durch Kardinal Hengsbach erlitten haben, dann wenden Sie sich bitte an die beauftragten Ansprechpersonen im Bistum Essen. Das Gleiche gilt auch, wenn Ihnen Hinweise bekannt sind, die für die weitere Aufarbeitung hilfreich sein können."