Ende der Richtlinienkompetenz: Der Papst setzt auf Pragmatik
Soziologisch betrachtet verkörpert ein Amt eine Institution. Und da es das Amt nicht abstrakt gibt, sondern immer nur personalisiert, machen die konkreten Amtsträger eine Institution sichtbar. Auch die römisch-katholische Kirche ist eine Institution. Sie mag sich als eine Institution göttlichen Rechts legitimieren. Und wer amtlich-öffentlich für sie einsteht, mag dies auf einer dogmatischen Ebene betrachtet stellvertretend für Christus tun. Dem Distanz nehmenden Blick erschließt sich über die Amtsfiguren der Kirche aber auch der Zustand, in der sich diese Institution befindet.
Blickt man zurück auf das inzwischen über zehn Jahre andauernde Pontifikat von Papst Franziskus, so kann man nicht erkennen, dass er gewillt ist, mit lehrmäßiger Klarheit von Amts wegen eine Richtlinienkompetenz auszuüben. Zwar bleibt er einerseits auf Linie mit dogmatisch-lehramtlichen Positionierungen. Das vor zwei Jahren von der Glaubenskongregation ausgesprochene, von ihm für die Veröffentlichung gut geheißene Segnungsverbot für homosexuelle Partnerschaften ist ein eindeutiger Beleg hierfür. Von ideologisch propagierter, gegen eine von Gott gewollte anthropologische Schöpfungsordnung gerichtete Gender-Ideologie ist er ebenso überzeugt wie seine beiden Vorgänger. Im Ton ist er indessen gut jesuanisch milder gegenüber den realen Lebensverhältnissen. Aus pastoralen Gründen müsse die Lehre zumindest in Ausnahmefällen auch zurückgestellt werden können. Was dogmatisch Sünde ist, dürfe aus pastoralen Klugheitsgründen nicht zu Verurteilungen der Personen und deren Lebenswirklichkeit führen.
Es ist nachvollziehbar, dass Menschen, die vom Papst erwarten, für lehrmäßige Klarheit zu stehen, eine solche pastorale Pragmatik als Ausverkauf der Frage nach der Wahrheit begreifen. Umgekehrt lässt sich verstehen, dass andere bereits eine vorsichtige Pastoral als Aufbruch in eine andere Kirche feiern. Zumal nicht ausgeschlossen werden kann, dass die pastorale Pragmatik bereits die Dogmatik der Zukunft enthält. Nur was bedeutet es, wenn in einer ihrem Selbstverständnis nach hierarchisch aufgebauten Kirche sich die Widersprüche ausgerechnet in der Person des Papstes verkörpern? Er sich auf der Ebene der Lehre anders positioniert als auf der der Pastoral?
Die Widersprüche ziehen sich längst durch die Kirche
Franziskus ist Papst, und zugleich verkörpert er die Widersprüche, die sich längst durch die ganze Institution katholische Kirche ziehen. Man muss keine prophetische Begabung haben, um vorauszusagen, dass eine kirchengeschichtliche Epoche, für die der Name Pius IX. (1846–1878) steht, zu Ende geht – präziser: vergangen ist. In das Pontifikat dieses stramm antimodernen Papstes fällt das Erste Vatikanische Konzil, auf dem die päpstliche Unfehlbarkeit und der Jurisdiktionsprimat verkündet wurden. Die vorsichtigen ekklesiologischen Neujustierungen, die das Zweite Vatikanische Konzil vorgenommen hat – zumindest der Intention nach –, waren durch Rom spätestens mit dem CIC von 1983 wieder einkassiert worden. Bereits unter den Vorgängern von Franziskus war jedoch deutlich zu spüren, dass die Durchsetzungsmöglichkeit dieser Ansprüche immer prekärer wurde. Das beste Beispiel hierfür ist das Verbot Johannes Pauls II., nachdem er mit Endgültigkeitsanspruch verkündet hatte, es gäbe keine Befugnis, Frauen zu Priesterinnen zu weihen, weiterhin darüber zu diskutieren und der damalige Präfekt des Glaubenskongregation Joseph Ratzinger flankierend darauf verwies, dass es keinen wirklichen Unterschied zwischen dem ordentlichen und dem außerordentliche Lehramt gebe. Man kann nicht sagen, dass das Verbot außerordentlich wirksam geworden wäre. Im Gegenteil. Regional unterschiedlich intensiv, dennoch global zu beobachten, wurde und wird bis heute weiter diskutiert, ob dies nicht doch möglich sei. Man mag dies mit der alten Hybris des Menschen erklären, der sich einfach nicht zu seinem Seelenheil vom Lehramt führen lassen will, oder aber auch damit, dass die vorgetragenen Gründe einfach nicht zu überzeugen vermögen.
Es ist nicht ganz leicht zu verstehen, warum Franziskus immer wieder betont, eine Synode sei kein Parlament. Stattdessen beschwört er das Wirken des Heiligen Geistes. Nur ist der wenig fassbar, wie ihm sein eigenes Kardinalskollegium fast schon tagtäglich vor Augen führt. Wäre der Heilige Geist unfehlbar wirksam, so ist nur noch schwer zu verstehen, warum sich immer wieder Kardinäle melden, die ihm de facto vorhalten, die Lehrtradition der Kirche zu gefährden, wenn nicht gar zu verraten. Offensichtlich herrscht bei ihnen der Eindruck, päpstlicher als der Papst zu wissen, was der Papst zu wissen hat. Oder aber ein Papst ist zumindest in der Ausübung seines ordentlichen Lehramts fehlbarer, als es die Entwicklung nach dem Ersten Vatikanischen Konzil für sich in Anspruch genommen hat. Dann könnte man auf die Idee kommen zu sagen, selbst auf der obersten Ebene der Leitung der katholischen Kirche bleibt nichts anderes, als Prinzipien des Parlamentarismus zu praktizieren und darum zu streiten, was nun gelten soll. Was man ja faktisch auch macht. Und was faktisch auch auf der derzeit in Rom tagenden Bischofssynode der Fall sein dürfte.
Autorität existiert nicht einfach
Ob es überhaupt jemals eine historische Epoche gegeben hat, in der Rom seine globalen Regulierungsansprüche hat durchsetzen können, ist zweifelhaft. Pius IX. hatte gemeint, die Tradition sei er, was bedeutet: Er beanspruchte für sich, definieren zu können, was zur unverhandelbaren Tradition der Kirche gehöre. Tatsächlich hat er sie erfunden. Doch was passiert, wenn Fiktionen als Fiktionen durchschaut werden und dennoch von denen, die sie erfunden haben, autoritär durchgesetzt werden wollen? Autorität existiert nicht einfach, sondern wird Personen zugeschrieben. Insofern stellt sie ein soziales Konstrukt dar. Sie kann so lange ausgeübt werden, wie sie nicht in Frage gestellt wird. Doch eben dies ist der Fall. Weil das römische Lehramt seine Ansprüche überdehnt hat, hat es selbst seine Autorität von innen heraus ausgehöhlt. Von außen betrachtet könnte man mutmaßen, dass Papst Franziskus dies ahnt. Rühren daher seine Warnungen, eine Synode sei kein Parlament? Ist es die Angst, es könne auf den Synodenversammlungen zu harten theologischen Auseinandersetzungen kommen?
Die globale katholische Kirche ist in sich hochgradig vielfältig, bunt ausgestaltet. Zudem ist überhaupt nicht damit zu rechnen, dass sich dies ändern wird. Es gibt unterschiedliche kulturelle Mentalitäten, Werteordnungen und Probleme. Entsprechend nehmen auch die Katholizismen unterschiedliche Entwicklungen. In gewisser Weise ist die katholische Kirche wieder in den Normalzustand zurückgekehrt, der sie über Jahrhunderte geprägt hat. Sie verliert auf der faktischen Ebene ihr starkes römisches Gepräge, weil der Druck zur Vereinheitlichung nicht mehr funktioniert. In den liberalen Demokratien kommt hinzu, dass längst sich als katholisch beschreibende Menschen sich die Werte dieser Demokratien angeeignet haben, ihr Evangelium im Rahmen dieser Werteordnungen auslegen. Deshalb kann man sich auch nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass Kardinäle, die durch die Vorlage von Dubia den Papst zwingen wollen, für Eindeutigkeit in der Lehre zu sorgen, empirisch nur wenig informiert sind oder aber der Fantasie anhängen, eine solche Lehre könnte noch durchgesetzt werden. Vermutlich werden diese nun sagen, nun gut, die Wahrheit hat den Vorrang vor den faktischen Verhältnissen und darf nicht ausverkauft werden. Nur werden sie sofort wieder mit der kritischen Frage konfrontiert werden, ob sie sich denn so sicher sein können, was die Wahrheit sei. Und der autoritäre Rekurs darauf, dass Amt sei schließlich göttlich eingesetzt, wird vermutlich wenig helfen. Autoritätsansprüche können sich im historischen Prozess erledigen.
Das Pontifikat von Franziskus könnte dereinst in die Geschichte eingegangen sein, an dem sich die römischen Regulierungsansprüche, wie sie sich von Pius IX. bis hin zu Benedikt XI. gezeigt haben, in einer geradezu tragisch-fatalen Weise verkörpert finden. Ob er dogmatisch-lehramtliche Veränderungen in der Lehre der Kirche vornehmen würde, wenn der veränderungsresistente Druck nicht so stark wäre, ist schwer zu sagen. Spannend für die Entwicklung der Zukunft der römisch-katholischen Kirche wird sein, wie stark von Rom aus jurisdiktionelle und lehramtliche Regulierungsansprüche erhoben werden und, wenn ja, ob sie sich überhaupt durchsetzen lassen. Vermutlich nicht. Das Papstamt könnte sich alternativ auch neu erfinden, eine Pluralität der Ortskirchen ermöglichen. Schließlich hat es sich im Verlauf der Geschichte immer erfunden. Was das Verbindende dieser Ortskirchen unter dem Dach des Bischofs von Rom sein könnte, müsste dann neu ausverhandelt werden. Blanker Gehorsam wird es nicht sein. Vielleicht stünde eine Rückbesinnung auf den Juden Jesus einer Kirche der Zukunft gut an, der einen nachsichtigen Blick auf den Menschen hatte, weil er die Ambivalenz dessen, was es bedeutet zu leben, an sich selbst erlebt und der eine möglichst große Gerechtigkeit in den sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen gefordert hat. Und dass nicht an allen Orten alles gleich ausgestaltet sein muss. Einschließlich der Zulassungsvoraussetzungen zum Amt. Konkurrenz belebt das Geschäft. Das war schon in der ganz frühen Kirche so, als man sich erbittert darüber stritt, ob Jesuswillige sich zuerst beschneiden lassen müssten. Der Kompromiss hieß: Nein. Unterschiedlichkeit darf sein.