Vatikan-Sekretär zu Pius-XII.-Forschung: Stehen praktisch am Beginn
Die Vatikan-Kommission für die Beziehungen zum Judentum gehörte zu den Trägern einer hochkarätig besetzten Expertentagung über die Vatikan-Akten zu Papst Pius XII. (1939-1958). Der Sekretär der Kommission, der deutsche Salesianerpater Norbert Hofmann, äußert sich im Interview zu neuen Erkenntnissen und zu Konsequenzen.
Frage: Die Tagung sollte ein Auftakt für die Aufarbeitung der lange verschlossenen Archive über Pius XII. sein. Wie verlief das Experten-Treffen?
Hofmann: Ich würde es in der Tat als Auftakt bezeichnen: Die vatikanischen Archive zum Pontifikat von Pius XII. wurden am 2. März 2020 geöffnet und mussten sechs Tage später wegen der Corona-Pandemie wieder schließen, so dass erst seit eineinhalb Jahren darin gearbeitet werden kann. Seriöse Historiker haben mir gesagt, dass man wenigstens fünf bis zehn Jahre forschen muss, um profunde Ergebnisse zu erzielen. Man hat jetzt erste Eindrücke gewonnen und Dokumente gesichtet, die hier präsentiert wurden. Wir stehen also praktisch am Beginn. Und es war ein Erfolg, dass so viele Historiker und Theologen, die an diesem Thema arbeiten, hier zusammengekommen sind.
Frage: Was haben Sie Neues gelernt, was hat sich bewegt?
Hofmann: Ich habe in der Tat einiges Neues gelernt – auch wenn manches schon im Raum stand: Dass der Vatikan und Pius XII. schon sehr früh über die Tatsache des Holocaust Bescheid gewusst haben, über sein Ausmaß, die Schrecklichkeit und Grausamkeiten. Und dass eigentlich auch alle Regierungen Bescheid gewusst haben.
Und zweitens, dass kirchliche Einrichtungen in Rom – Klöster, Gemeinden und auch der Vatikan – ihre Tore geöffnet haben, um Juden zu verstecken. Das war im Prinzip schon immer bekannt. Aber inzwischen wurde deutlich, dass dies nicht ohne eine zentrale Stimme hat passieren können: Dass der Vatikan und Pius XII. selbst dahinter gesteckt und entsprechende Erlaubnis und Order gegeben haben.
Frage: Gibt es ein neues Pius-Bild?
Hofmann: Ich glaube, da müssen wir wirklich noch fünf bis zehn Jahre warten, bis die Forscher belastbares Material vorlegen können. Freilich haben etwa die Forschungen von Professor Hubert Wolf aus Münster gezeigt, dass es sehr viele Bittbriefe von Juden an den Vatikan gegeben hat, und man versucht hat zu helfen, wo es möglich war. Das Ausmaß der Hilfsbereitschaft ist klarer geworden. Der Vatikan hat von Anfang an versucht, hinter den Kulissen zu helfen. Ob das auch andere Regierungen immer so gemacht haben, ist eine Frage, die ebenfalls in der Tagung anklang.
Frage: Ist der Polemik um Pius mit Öffnung der Archive der Boden entzogen?
Hofmann: In meiner Arbeit, dem jüdisch-katholischen Dialog seitens des Vatikans, war dieses Thema bis zur Öffnung der Archive immer auf dem Tisch: Pius XII., sein Schweigen, die Öffnung der Archive, die historische Wahrheit. Seit der Öffnung der Archive ist dieser Polemik und ihren Verfechtern der Wind aus den Segeln genommen. Insofern hat es sich für meine Arbeit beruhigt. Jetzt warten wir auf die Ergebnisse. Denn von Anfang an war klar, dass die Öffnung der Archive und der jüdisch-christliche Dialog miteinander verbunden werden sollen. Dazu hat diese Tagung beigetragen.
Frage: Sind hier aber nicht neue Kontroversen aufgebrochen? Etwa: Ab wann genau wusste der Vatikan vom Holocaust?
Hofmann: Ich glaube, dass diese neuen Kontroversen die Historiker betreffen, die darüber streiten können, aber nicht die allgemeine Gemengelage.
Frage: Welche Konsequenzen ergeben sich nun für Ihre Arbeit?
Hofmann: Ich empfinde es als große Entlastung, dass die Archive geöffnet sind. Ich muss nicht mehr ständig zur Polemik um versteckte Wahrheiten Stellung beziehen. Ich bin froh über diese Tagung, über diesen Startpunkt, und hoffe, dass die Historiker und Theologen dranbleiben und bald Ergebnisse liefern können.
Frage: Pius ist also nicht mehr die entscheidende, die spaltende Figur?
Hofmann: Im jüdisch-katholischen Dialog war immer Christus die entscheidende, die spaltende Figur. Belastungen zwischen Juden und Christen hat es durch die Jahrhunderte gegeben, wenn man an die Pogrome denkt. Nun war zuletzt Pius XII. ins Rampenlicht gerückt. Aber das Rampenlicht tut gut, ich hoffe, dass sachlich gearbeitet wird und die historische Wahrheit an den Tag kommt.
Frage: Und wie geht Ihre Arbeit weiter?
Hofmann: Ich setze meine Arbeit ganz normal wie bisher fort. Wir haben vom 13. bis 16. November eine jüdisch-christliche Tagung in Sao Paulo. Es geht dabei um ethische Themen, um gemeinsame Werte von Juden und Christen, um den nach dem Ebenbild Gottes geschaffenen Menschen und die Folgerungen für die Menschenwürde. Und dabei sprechen wir dann auch über Abtreibung und über Fragen, die mit dem Ende des Lebens zu tun haben.