SS deportierte mehr als 1.000 Juden in Rom

Vor 80 Jahren: Juden-Deportation unter dem Fenster des Papstes

Veröffentlicht am 15.10.2023 um 12:00 Uhr – Von Christiane Laudage (KNA) – Lesedauer: 
Vor 80 Jahren: Juden-Deportation unter dem Fenster des Papstes
Bild: © KNA

Vatikanstadt ‐ Hat Pius XII. tatenlos zugesehen, als am 16. Oktober 1943 "unter seinem Fenster" die Juden in Rom abtransportiert wurden? Erst kürzlich haben Historiker bei einem Kongress neue Erkenntnisse vorgelegt. Die Bewertung bleibt aber schwierig.

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Der Zeitpunkt war mit Bedacht gewählt. Am 16. Oktober 1943, dem Sabbat-Morgen, als die jüdischen Familien zuhause waren, riegelten SS-Einheiten das jüdische Ghetto in Rom ab. Sie trieben die Bewohner aus ihren Wohnungen heraus wie auch in anderen Teilen der Stadt, wo weitere SS-Leute mit Adressenlisten der jüdischen Bewohner unterwegs waren.

Insgesamt wurden 1.259 jüdische Menschen in ein ehemaliges Militärkolleg in der Nähe des Vatikans gebracht. Die Zahl erhöhte sich um eins, weil eine schwangere Frau aufgrund der traumatischen Ereignisse vorzeitig ihr Kind gebar. Zwei Tage später wurden die Gefangenen in 18 fensterlose Viehwaggons gequetscht, am 23. Oktober kamen sie dann in Auswitz an. Es überlebten nur 16.

Der US-amerikanische Historiker David Kertzer erhebt in seiner im vergangenen Jahr veröffentlichten Darstellung über Pius XII. den Vorwurf, der Vatikan habe zwar Juden geholfen, aber nur dann, wenn sie getauft waren oder in einer Ehe mit einer getauften Person lebten. Tatsächlich prüften die Deutschen bei den Gefangenen im Militärkolleg die Dokumente und ließen diese Personen frei. "Man befand sich ja schließlich in Rom, nicht in Polen oder Russland, und die Deutschen wollten den Vatikan nicht über die Maßen provozieren", schreibt der Historiker.

Schlüsselszene im Drama "Der Stellvertreter"

Der Abtransport der römischen Juden quasi unter dem Fenster des Papstes ist auch eine Schlüsselszene in dem 1963 veröffentlichten Drama "Der Stellvertreter". Der Schriftsteller Rolf Hochhuth (1931-2020) klagte Papst Pius XII. an, er habe zum Mord an den Juden geschwiegen, und die Kirche habe zuwenig dagegen getan.

Mitte Oktober haben Wissenschaftler bei einem internationalen Fachkongress an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom neue Ergebnisse zum Pontifikat des Pius-Papstes (1939-1958) vorgestellt. Pius wäre früher und umfassener über die Massenvernichtung der Juden im Deutschen Reich informiert gewesen als bisher bekannt, so der Historiker Michele Sarfatti. Der Papst wusste also, welches Schicksal die abtransportierten Menschen erwartete.

Tatsächlich blieben Papst und Vatikan nicht untätig. In den verschiedensten kirchlichen Einrichtungen fanden Juden wie auch andere von den Nazis Verfolgte eine Zuflucht, mehr als einmal über das Fassungsvermögen hinaus. Das war nur möglich mit dem Einverständnis des Papstes.

Historiker Wolf: Vatikan-Archiv bringt Paradigmenwechsel zu Pius XII.

Papst Pius XII. und der Holocaust: Über dieses Thema forschen Historiker seit der Öffnung der Vatikan-Archive intensiv. Laut dem Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf wird man durch die Erkenntnisse vieles in einem neuen Licht betrachten müssen.

Eine vor kurzem wiedergefundene Liste mit den Namen von in Klöstern versteckten Juden ist im Archiv des Päpstlichen Bibelinstituts aufgetaucht. Die Liste umfasste mehr als 4.300 Menschen, von denen 3.600 namentlich genannt wurden. 3.200 waren mit Sicherheit Juden, wie ein Abgleich mit dem Archiv der jüdischen Gemeinde ergab.

Nicht nur in Rom und Umgebung war die Kirche aktiv. In Florenz gab es ein interreligiöses Netzwerk unter der Leitung des Erzbischofs, Kardinal Elia dalla Costa (1872-1961). Der Kardinal schickte einen Brief an alle Klöster in und um Florenz mit der Bitte, ihre Türen für die verfolgten Juden zu öffnen.

Yad Vashem beschrieb das als "Anfang einer einzigartigen Initiative – einer christlich-jüdischen Zusammenarbeit zwischen Erzbischof Dalla Costa und seinem Klerus einerseits und jüdischen Führungspersönlichkeiten wie Raffaele Cantoni und Rabbi Nathan Cassuto andererseits".

Heiliger Stuhl habe auf Hilferufe reagiert

Hilfe der Kirche und insbesondere des Heiligen Stuhls für Juden war zugleich ein über Italien hinaus reichendes Unterfangen. Der Münsteraner Historiker Hubert Wolf hat bei seinen Forschungen zu Pius XII. nach der Öffnung der Archive 2020 bis dahin unbekannte Bittschriften an den Papst gefunden, die er mit einem Team bearbeitet. Der Historiker Matthias Daufratshofer erklärt in der Projektbeschreibung, dass mehr als 15.000 Menschen aus ganz Europa den Papst um Hilfe gebeten hätten.

Das Team um Wolf arbeitet diese Briefe auf. Eine erste Analyse der Quellen ergab, dass der Heilige Stuhl wann immer möglich auf Hilferufe reagiert habe, etwa mit Geld, Essen oder einem Visum. Wolf sagte auf dem Kongress, statt zu fragen, was der Papst angesichts des Holocaust getan habe, müsse nun gefragt werden, was der Vatikan als Ganzes getan habe.

Seit drei Jahren stehen die vatikanischen Archive den Forschern offen. Bei dem internationalen Kongress zeigte sich jedoch, dass sowohl die "Verteidiger" des Papstes wie auch seine "Ankläger" sich bestätigt sahen. Einig waren sie sich in der Einschätzung, dass die Forschenden noch lange brauchen werden, um das gesamte Material zu sichten. Und dann erst könne man zu einem endgültigen Urteil kommen.

Von Christiane Laudage (KNA)