Erwartung der Wiederkunft Christi heute beinahe erloschen
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Der Philosoph Jean-François Lyotard hat für die Postmoderne das "Ende der großen Erzählungen" verkündet. Viele kleine Narrative würden der Vielfalt heutiger Lebenswelten besser gerecht – bitte keine allumgreifenden Erzählungen mehr! Dennoch bietet das Christentum nach wie vor eine solche Erzählung an: Schöpfung und Vollendung bilden den Rahmen, dazwischen gibt es die Bundesgeschichte mit Israel, das Kommen Christi und die Gabe des Hl. Geistes, der die Kirche auf ihrem Weg bis zur Wiederkunft Christi begleitet.
Die Parusie ist ein Element dieser großen Erzählung. Die Erwartung des Kommens des Herrn ist heute allerdings beinahe erloschen. Sie kommt zwar in der eucharistischen Liturgie vor, wenn es heißt: "bis er kommt in Herrlichkeit." Aber im Leben der Gläubigen spielt die Erwartung kaum eine Rolle. Dabei werden in den Evangelien sogar Vorzeichen des Kommens genannt. Naturkatastrophen, Kriege, Abfall vom Glauben, falsche Heilbringer, Verfolgungen.
Diese Vorzeichen sind heute erfüllt. Aber wir lesen diese Aussagen nicht als vorwegnehmende Reportage des Endes. Es gilt der Vorbehalt, dass wir den Standpunkt Gottes nicht einnehmen können. Viele meinen, dass es trotz aller Krisen schon irgendwie weitergeht. Gegen diese evolutionistisch getönte Sicht hat Johann Baptist Metz Einspruch erhoben. Das apokalyptische Erbe der Bibel erinnere an die Befristung der Zeit und schärfe den Blick für das Leid der Entrechteten. Das sei ein Anstoß für eine solidarische Nachfolgepraxis.
Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist die Rede von einem Einbruch Gottes in die Zeit, geschweige denn von einer baldigen Parusie Christi fast verstummt. Das Büro der Geschichtstheologie ist geschlossen. Bei aller Zurückhaltung wäre es allerdings fatal, hier einem Agnostizismus zu verfallen. Wenn Gott in der Vergangenheit rettend gewirkt hat, so behauptet es zumindest die große Erzählung, dann wird er dies auch jetzt und in Zukunft tun können. Die Geschichte läuft demnach nicht auf ein Fiasko zu. Ihr Fluchtpunkt hat einen Namen und ein Gesicht: Jesus Christus, der kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten. Es ist demnach nicht egal, wie wir leben. Wir werden erwartet, wir werden befragt. Das ist kein Grund zur Angst, denn "die Wahrheit, die uns richtet, ist aufgebrochen, uns zu retten" (Joseph Ratzinger).
Der Autor
Jan-Heiner Tück ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien. Außerdem ist er Schriftleiter der Zeitschrift Communio und Initiator der Wiener Poetikdozentur Literatur und Religion.
Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.