Noch ist das Konzil nicht komplett ins Recht übersetzt
Das Zweite Vatikanische Konzil ging 1965 zu Ende. Viele Weichen für die Zukunft wurden gestellt: das Verhältnis von Kirche und Welt, die Ökumene, Religionsfreiheit, eine Aufwertung von Laien und Bischöfen, Beziehungen zu den nichtchristlichen Religionen wurden auf neue Grundlagen gestellt. Doch das 1917 erlassene kirchliche Recht galt erst einmal weiter, nur in Details wurde es durch nachkonziliare Gesetzgebung ergänzt. Bis auch das Kirchenrecht auf dem Stand des Zweiten Vatikanums ankam, sollte es fast 20 Jahre dauern: Erst 1983 setzte Papst Johannes Paul II. den grundlegend reformierten Codex Iuris Canonici in Kraft. Der Innsbrucker Kirchenrechtler Wilhelm Rees hat die ganze Geltungsdauer des neuen Rechts wissenschaftlich begleitet: Seine Assistenzzeit begann er noch unter Geltung des CIC von 1917, emeritiert wurde er im 40. Jubiläumsjahr. Im Interview mit katholisch.de zeichnet er die verschiedenen gesetzgeberischen Handschriften der Päpste seit 1983 nach und nennt Punkte, die immer noch einer Reform des Rechts harren.
Frage: Professor Rees, Sie haben Ihre wissenschaftliche Laufbahn 1982 begonnen, kurz vor Inkrafttreten des neuen Kirchenrechts. Wie war damals die Stimmung in dieser Zeit des Wandels?
Rees: Ich muss vielleicht noch etwas weiter zurückgehen: Schon in der Oberstufe des Gymnasiums habe ich im Religionsunterricht und in der Pfarrgemeinde die Aufbruchsstimmung nach dem Zweiten Vatikanum augenfällig gespürt. Vor allem die Liturgiereform war ein deutliches Zeichen des Wandels, aber auch die größeren Möglichkeiten der Mitverantwortung und Mitgestaltung für Laien – etwa in den Pfarrgemeinderäten – sowie die Öffnung zur Welt und eine gewisse Anpassung an die Erfordernisse der Zeit. Vieles, was 1983 dann im neuen Kodex zusammengefasst wurde, wurde schon durch die unmittelbare nachkonziliare Gesetzgebung vorgeben und festgelegt. Während des Theologiestudiums war das Konzil in allen Fächern präsent, besonders im Kirchenrecht, nicht zuletzt auch durch den Blick auf die einzelnen Schemata, also die Entwürfe, und dem Vergleich mit dem bisherigen Recht. Daher war man ganz gut auf die Veränderungen vorbereitet. Es gab ein großes Feld für das wissenschaftliche Arbeiten und Forschen, aber auch die Vermittlung der Neuerungen in die Praxis des kirchlichen Lebens. Es bestand natürlich auch eine gewisse Unsicherheit, weil sich der Reformprozess so lange hingezogen hat: Wird wirklich umgesetzt, was das Konzil vorgezeichnet hat? Oder hält man doch lieber an Traditionen fest? Man sah auch, dass sich manche – darunter auch Kirchenvertreter – mit dem Konzil schwertaten.
Frage: Wie ist das Verhältnis von Konzil und CIC? Manche sehen im Kodex ja das letzte und verbindliche Dokument des Konzils.
Rees: Es gibt eine Debatte in der Kirchenrechtswissenschaft, ob das Konzil vom Kodex her zu interpretieren ist oder der Kodex vom Konzil. Nur ein paar Kanonisten vertreten die Position, dass der Kodex das Konzil autoritativ und vollständig auslegt und das Konzil im Licht des Kodex zu sehen ist. Der Kodex erscheint somit als das letzte und damit letztverbindliche Dokument des Konzils, somit letztlich als Krönung und Abschluss des Konzils. Die Mehrheit, der ich mich anschließe, sieht es jedoch anders: Das Konzil muss zur Auslegung des Gesetzes herangezogen werden, nicht umgekehrt. Es bildet die Grundlage für das Verständnis der kirchrechtlichen Normen und dessen Anwendung. Der Kodex hat jedoch den Entwicklungsprozess des kirchlichen Rechts nicht beendet.
Frage: Wie hat der Kodex das Konzil umgesetzt? Ist das durchweg gelungen?
Rees: Eine wichtige Änderung ist die Abkehr von Kasuistik und einseitig naturrechtlichen Begründungen. Viele bisherige, zum Teil kleinteilige Regelungen sind weggefallen oder konnten nicht mehr aufrechterhalten werden, was vielleicht nicht immer von Vorteil war. Dann sind ekklesiologische Aussagen viel wichtiger als zuvor: Das neue Kirchenrecht ist gewissermaßen theologischer geworden. Es finden sich nicht mehr nur Normen, sondern auch theologische Leitsätze, die zum Beispiel erläutern, was die Kirche über Sakramente lehrt. Der Kodex hat den pastoralen Wandel des Konzils nachvollzogen, auch wenn kirchliche Normen Recht im Sinne des Wortes sein müssen. Ein wichtiger Aspekt der Konzilstheologie ist der Gedanke der Communio, dass Kirche als Gemeinschaft gesehen wird, als Volk Gottes. Die Communio-Ekklesiologie wurde an vielen Stellen umgesetzt, ebenso wie der Gedanke der Kollegialität der Bischöfe: Die Aufwertung des Diözesanbischofs gegenüber dem Papst und ebenso der Diözese, die Stärkung der Bischofskonferenz, kollegiale Versammlungen der Bischöfe, auch in Form der neu errichteten Bischofssynode, der Blick auf die Gläubigen, zu denen Kleriker und Laien zählen, und – wenn auch nicht allzu stark, verhalten und daher reformbedürftig und entwicklungsfähig – die Mitverantwortung von Laien und deren Teilhabe an den drei Ämtern Christi. Die Richtung stimmte, vieles ist gelungen, aber hundertprozentig – so wird man wohl sagen müssen – wurden die Konzilsdokumente nicht umgesetzt.
Frage: Was fehlt denn?
Rees: Etwa eine klare Ausformulierung von Synodalität. Es gibt synodale Versammlungen auf allen Ebenen der Kirche bis hin zum Pfarrgemeinderat – aber das Wort "Synodalität" kommt nicht vor! Hier greift man heute in der Diskussion auf Konzilstexte zurück, um für mehr Synodalität zu argumentieren. Auch Umwelt, Schöpfungsverantwortung oder auch Denkmalschutz fehlen, das sind allerdings auch Themen, die beim Konzil eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Die Ökumene hätte einen höheren Stellenwert haben können. Da wurde einiges durch die folgenden Ökumenischen Direktorien des Päpstlichen Rats (jetzt Dikasterium) zur Förderung der Einheit der Christen, zuletzt im Jahr 1993, nachgetragen und entfaltet.
Frage: Momentan regelt der Kodex vor allem den Sakramentenempfang unter Christen verschiedener Kirchen und Gemeinschaften. Was müsste man darüber hinaus noch rechtlich in der Ökumene regeln?
Rees: Für mich wäre die Ökumene vor Ort, im Bereich der Schule und vor allem im Religionsunterricht wichtig, bei letzterem auch Fragen der Kooperation, wie sie sich heute stellen. Aber nicht nur Ökumene, sondern auch der interreligiöse Dialog. Die Verantwortung von Papst und Bischöfen wird normiert, Fragen der ökumenischen Zusammenarbeit und des interreligiösen Dialogs werden nicht in den Blick genommen. Auch hier muss auf verschiedene neuere Dokumente verwiesen werden, wobei man zum Teil doch eine etwas ängstliche Sorge mit Blick auf den eigenen Glauben in den Dokumenten und eine gewisse Vorsichtigkeit wahrnehmen kann.
Frage: Ist die Communio-Ekklesiologie wirklich so gut umgesetzt? Es gibt zwar Bischofskonferenzen, die haben aber kaum eigene Kompetenzen. Und es gibt Bischofssynoden, die aber anders als in den Ostkirchen reine Beratungsgremien sind und an denen nur sehr ausgewählte Bischöfe teilnehmen.
Rees: Die Bischofskonferenzen haben sicher nicht den Stellenwert erhalten, den ihnen das Konzil zugedacht hat. Das spricht Papst Franziskus gegenwärtig auch immer wieder mit dem Gedanken der Dezentralisierung an. Da gab und gibt es sicher auch gewisse römische Aversionen, man fühlt sich an Versuche des Ausbaus von "Nationalkirchen" wie in Frankreich mit dem Gallikanismus oder in Österreich mit dem Josephinismus erinnert; heute denkt man nicht zuletzt auch an den Synodalen Weg, der für manche diese Gefahr birgt. Die augenblickliche Regelung der Bischofskonferenzen und die ausdrücklich festgelegten Kompetenzen lassen sich vielleicht auch mit der Aufwertung der Bischöfe durch das Konzil erklären: Man wollte wohl den neu gewonnenen größeren Handlungsspielraum des Diözesanbischofs nicht gleich wieder durch die Bischofskonferenz einschränken. Auf Ebene der universalen Kirche ist durch die Synoden – insbesondere die Römische Bischofssynode – nicht sichergestellt, dass jeder Bischof tatsächlich an der Leitung der Gesamtkirche beteiligt ist, wie es theologisch im Bischofskollegium eigentlich grundgelegt ist. Hier kann nur ein geringer Prozentsatz der Bischöfe diese Verantwortung wahrnehmen.
Frage: Und dabei haben wir noch gar nicht über die Laien gesprochen. Auch die wurden vom Konzil mit Wertschätzung behandelt.
Rees: Zur Communio gehört meines Erachtens auch die Mitverantwortung der Laien, das heißt von Mann und Frau, aufgrund von Taufe und Firmung und deren Wertschätzung sowie Einbindung in Entscheidungsprozesse. Da gibt es leider nur Ansatzpunkte im Kodex. Sicher, es wurden Rechte und Pflichten aller Gläubigen und auch der Laien im Codex verankert – letztere sind jedoch durchaus nicht in einem wünschenswerten Umfang und daher eher schwach ausgestaltet. Die Unzufriedenheit vieler – insbesondere auch engagierter Laien – mit der Verfassungsstruktur der Kirche, die Reformprozesse wie den Synodalen Weg oder nicht zuletzt die Weltbischofssynode mit angetrieben haben, sowie die hohe Zahl von Kirchenaustritten macht deutlich, dass es hier Handlungsbedarf gibt. Theologisch wird die Mitverantwortung aus Taufe und Firmung heraus hochgehalten, rechtlich hat man doch eher den Eindruck, dass Laien bisher eher "Lückenbüßer" sind, wenn keine Kleriker zur Verfügung stehen.
Frage: Eine interessante Entwicklung ist, dass das Zweite Vatikanum die Lehre von der "Sacra potestas", der "heiligen Vollmacht", stark gemacht hat und Weihe- und Leitungsgewalt eng miteinander verknüpft hat. Rechtlich wurde das im Kodex nicht nachvollzogen, Weihe- und Leitungsgewalt werden klar unterschieden. Das öffnet Möglichkeiten für Mitverantwortung. Hat hier der Kodex in einer Abweichung von der Lehre des Konzils für Laien mehr möglich gemacht, als zu erwarten war?
Rees: Ja, das ist klar eine andere Richtungsentscheidung in der Gesetzgebung. Der Kodex hat den Begriff der "Sacra potestas" nicht übernommen mitvollzogen und stattdessen die seit Jahrhunderten traditionelle Unterscheidung von Weihevollmacht und Leitungsvollmacht beibehalten. Darin sehe ich eine große Chance, die Mitverantwortung von Laien an der Leitung der Kirche zu stärken und umzusetzen. So wird deutlich gemacht, dass Leitung nicht notwendig an das Weihesakrament gebunden sein muss. Schon jetzt können Laien ja an der Leitungsvollmacht mitwirken, während zur Übernahme und Ausübung nur geweihte Personen fähig sind. Durch die Unterscheidung von Weihe- und Leitungsvollmacht ist es überhaupt möglich, dass Papst Franziskus in seiner Kurienreform die Leitung von Dikasterien durch Laien ermöglicht hat. Im Kodex selbst ist vorgesehen, dass Laien kirchliche Richter und Richterinnen sein können – auch das ist Teilhabe an der Leitungsvollmacht. Aus meiner Sicht wäre es konsequent, dass man auf dieser Grundlage auch die Gemeindeleitung durch Laien weniger kritisch sehen könnte, als es das Klerusdikasterium derzeit tut: Wenn Laien Dikasterien der Römischen Kurie leiten oder klerikalen Ordensgemeinschaften vorstehen können, warum sollten sie dann nicht auch Gemeinden leiten können?
Frage: Einige Vorhaben sind bei der Kodexreform auf der Strecke geblieben, etwa die Idee einer "Lex ecclesiae fundamentalis": Warum haben wir kein Grundgesetz der Kirche?
Rees: Papst Johannes Paul II. hat das wohl in der letzten Redaktionsphase zu Fall gebracht. Gründe dafür hat er nicht genannt. Vielleicht hätte es weiterer Überlegungen bedurft, die jedoch die schon lange erwartete Promulgation des Kodex noch weiter verzögert hätten. Ich finde die fehlende Umsetzung bedauerlich: Ein kirchliches Grundgesetz, das den beiden Gesetzbüchern der West- und der Ostkirche vorgeschaltet ist und das Gemeinsame regelt, hätte den Gedanken, dass die katholische Kirche aus Ostkirchen und der Westkirche besteht, und damit die Gemeinschaft dieser Kirchen stärker deutlich gemacht als die jetzige Situation, wo es den CIC für die lateinische Kirche und den CCEO für die katholischen Ostkirchen gibt, aber keinen verbindenden Rechtsrahmen. Was in den Entwürfen für das Grundgesetz stand, ist nicht verloren gegangen. Vieles wurde in die beiden Kodizes eingearbeitet, wie die Rechte und Pflichten der Gläubigen, aber eben nicht im Rang eines fundamentalen Gesetzes, nicht als wirkliche Grundrechte. Aktuell gibt es in der Kanonistik wieder Bestrebungen, doch noch ein Grundgesetz voranzubringen, auch der Synodale Weg in Deutschland hat beschlossen, die Diskussion über eine Lex ecclesiae fundamentalis voranzutreiben. Diese Initiativen begrüße ich sehr.
Frage: Das andere große Reformprojekt, das nicht Wirklichkeit wurde, ist eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit. Woran ist die gescheitert?
Rees: Da verhält es sich ähnlich wie beim Grundgesetz: Es gab viele fundierte Vorarbeiten, aber letzten Endes fiel die Entscheidung dagegen aus. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Eine Verwaltungsgerichtsbarkeit ist heikel mit Blick auf die Stellung von Bischöfen: Wer kann Bischöfe kontrollieren? Ein diözesanes Gericht, dem womöglich auch Laien angehören? Das steht in Spannung zur Rolle des Bischofs als oberster Richter seines Bistums. Hätte es weltweit entsprechend ausgebildete Richter und Richterinnen gegeben und auch die erforderlichen Finanzen? Die neuen Ansätze und Initiativen begrüße ich: Gerade angesichts der umfassenden Vollmacht von Bischöfen bräuchte es eine solche Einrichtung und transparente Verfahren, um ihr Handeln überprüfen zu können. Es gibt ja bereits kirchliche Arbeitsgerichte in Deutschland, auf weltkirchlicher Ebene bisher nur die Apostolische Signatur.
Frage: Im Vergleich zu seinem Vorgänger ist der neue Kodex ein sehr lebendiges Dokument. Der Wortlaut des CIC von 1917 wurde nur dreimal geändert und war so quasi versteinert. Am CIC von 1983 haben alle Päpste seither teilweise umfangreiche Änderungen vorgenommen. Was haben die drei Päpste Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus in den Kodex eingebracht? Was ist ihre "Rechtspolitik"?
Rees: Alle drei Päpste haben erkannt, dass das Recht nichts Starres ist, sondern auf Entwicklungen und Bedürfnisse der Zeit reagieren muss, und das geltende Recht Veränderungen braucht. In einer Mediengesellschaft kommen auch die Wünsche und Forderungen von Gläubigen deutlicher zum Tragen. So hat Papst Johannes Paul II. nicht nur die beiden Kodizes promulgiert, sondern sich in seiner Gesetzgebungstätigkeit den kirchlichen Universitäten und Fakultäten sowie Universitäten zugewandt, neue Normen für das Selig- und Heiligsprechungsverfahren, die Römische Kurie und die Militärseelsorge erlassen und die Papstwahlordnung verändert. Das sind Bereiche, die im Kodex selbst nicht umfassend geregelt sind, aber zu den zu regelnden Bereichen gehören. Schon bei Papst Johannes Paul II. galt es, auf sexuellen Missbrauch innerhalb der Kirche sowie auf sonstige schwerwiegendere Vergehen zu reagieren. Die von ihm erlassenen Normen wurden jedoch nicht veröffentlicht, erst später agierte die Kirche hier transparenter. Für Papst Johannes Paul II. war der Schutz der kirchlichen Lehre und die Verfassungsstruktur der Kirche wichtig: Er hat sich zur Weihe von Frauen geäußert, den theologischen und juridischen Status der Bischofskonferenzen geklärt und Normen zum Schutz des Glaubens in den Kodex aufgenommen. Zu erinnern ist an seine Konkordatspolitik und die zahlreichen Abschlüsse von entsprechenden Verträgen.
Frage: Zeigt sich auch hier eine Kontinuität bei seinem Nachfolger?
Rees: Grundsätzlich schon, aber auch mit deutlich eigenen Schwerpunkten: Papst Benedikt XVI. hat stärker auf den Bereich der Sakramente und die Liturgie geblickt. Er hat den Umgang mit Kirchenaustritt im kirchlichen Eherecht geändert, die vorkonziliare Liturgie und damit die Tridentinische Messe als "außerordentliche Form des römischen Ritus" wieder zugelassen, Änderungen in der Ordnung des Weihesakraments mit Blick auf den Diakon und das Handeln in "Persona Christi" vorgenommen und somit die Vollmachten von Priester und Bischof auf der einen und des Diakons auf der anderen Seite klar unterschieden. Bei den Regeln für die Papstwahl hat er die verbindliche Zwei-Drittel-Mehrheit wieder eingeführt, für die Anglikaner, die in Gemeinschaft mit Rom kommen wollen, Personalordinariate geschaffen und sich der Eingliederung der Piusbruderschaft zugewandt. Es erfolgte auch eine Neuordnung der organisierten Formen der Caritas. Der Umgang mit Missbrauch wurde in seinem Pontifikat noch einmal drängender und durch entsprechende Normen verschärft.
Frage: Bleibt die Amtszeit von Franziskus. Der ist sehr aktiv in der Gesetzgebung.
Rees: Ja, man muss quasi täglich die Medien im Blick behalten, um nicht eine Gesetzesänderung oder neue Gesetze zu verpassen. Das Programm von Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. schien mir zu sein, die Kirche vor Entgleisungen und Missständen zu schützen und die Tradition zu bewahren. Franziskus dagegen wurde vom Konklave mit dem Mandat einer umfassenden Reform von aufgestauten Missständen gewählt: etwa im Bereich der kirchlichen Vermögensverwaltung. Finanzskandale gab es auch in der Zeit der Vorgänger, zum Teil ohne zufriedenstellende Lösungen. Papst Franziskus hat begonnen, diesen Bereich umfassend zu reformieren, ähnlich wie jenen des sexuellen Missbrauchs. Vorrangig ist für ihn vor allem die Evangelisierung und die Verkündigung des Glaubens wichtig. Franziskus möchte hier eine neue Etappe einleiten – nicht umsonst hat er die Laienämter des Akolythats und des Lektorats reformiert und dabei auch Geschlechtergerechtigkeit hergestellt und ebenso das Amt des Katecheten/der Katechetin eingeführt. Ein weiteres Schlagwort ist Barmherzigkeit und der Blick auf die Menschen – rechtlich zeigt sich das etwa in einem vereinfachten Ehenichtigkeitsverfahren und Geschiedene und Wiederverheirate. Auch hat Papst Franziskus im Bereich des Ordensrechts Änderungen vollzogen, etwa die Leitung von klerikalen Ordensinstituten durch Laienbrüder ermöglicht und den Rechtsschutz von Ordensmitgliedern verbessert – als Ordensmann hat er in diesem Feld auch einen besonders guten Einblick. Vor allem ist der Bereich der Synodalität zu nennen, der rechtlich gesehen – abgesehen von Neuerungen bei der Bischofssynode – noch nicht übermäßig neu reguliert wurde. Die Entscheidungen zur Zusammensetzung der Weltsynode und die auf breite Basis gestellte Vorbereitung sprechen aber ein deutliches Zeichen. Hier rechne ich erst nach Abschluss der Synode mit umfassenden Gesetzesänderungen. Die große Kurienreform darf nicht vergessen werden, wie auch die Erteilung von Vollmachten an die Bischofskonferenzen im Hinblick auf Überprüfung bzw. Approbationen.
Frage: Das größte Reformprojekt von Franziskus ist das neue Strafrecht – noch nie zuvor wurde ein ganzes Buch des Kodex umfassend reformiert. Ist diese Reform gelungen?
Rees: Auch das ist eine Reform, die auf Papst Benedikt XVI. zurückgeht. Bereits er war mit sexuellem Missbrauch und Finanzskandalen konfrontiert, und ihm wurde wohl schnell klar, dass das Strafrecht kaum in der Kirche angewendet wurde. So hat er die Reform eingeleitet. Das Konzil hatte den Schwerpunkt auf pastoralen Aspekten, leider war das mit einer gewissen antijuridischen Haltung verbunden, wo Strafen kaum eine Rolle spielten. Das spiegelte sich auch im Kodex von 1983 wider: Das Strafrecht wurde entschlackt, sehr verallgemeinert, kaum anwendbar. Strafen wurden nur als letzte Maßnahme gesehen, die möglichst vermieden werden sollte. Eine Strafrechtsreform war also überfällig. Papst Franziskus hat bei der Inkraftsetzung des neuen Strafrechts sehr deutliche Worte gefunden, mit denen er Bischöfe darauf verpflichtet hat, eine gerechte Anwendung des Strafrechts auch als Teil ihrer Leitungsaufgabe zu sehen. Jetzt ist vieles verbindlicher gefasst, was zuvor noch ins Ermessen von Bischöfen oder kirchlichen Richtern und Richterinnen gestellt war: Straftatbestände wurden genauer formuliert, Strafmaßnahmen konkret festgelegt, wo zuvor nur von "gerechter Strafe" die Rede war. Neu ist die Möglichkeit von Geldstrafen. Absolut notwendig war, nun auch die Unschuldsvermutung und damit ein wesentliches Grundrecht ins kirchliche Recht aufzunehmen und auch den Rechtsschutz zu verbessern. Regelungen aus Sonderrecht wurde in den Kodex aufgenommen. Das sind alles gute Veränderungen, teils auch notwendige Verschärfungen. Eine grundsätzliche, große Reform ist jedoch ausgeblieben. Die Frage ist, ob das Strafrecht in Zukunft auch tatsächlich stärker angewendet wird.
Frage: Was vermissen Sie denn noch?
Rees: Der Umgang mit Missbrauch und dessen Aufarbeitung ist immer noch nicht umfassend und zufriedenstellend gelungen, dies vor allem mit Blick auf die Betroffenen. Vieles war notwendig und ist bereits geschehen, wie die Möglichkeit der Sanktionierung von Vertuschung und die Einführung einer Anzeigepflicht für Kleriker und Ordensleute. Geistlicher oder spiritueller Missbrauch ist bislang nicht strafbewehrt, wenn man ihn nicht allgemein unter "Amtsmissbrauch" subsumieren will. Und sexueller Missbrauch wird immer noch als Verstoß gegen das sechste Verbot gesehen. Zwar wurden einzelne Straftatbestände normiert, die davon erfasst werden, wie unter anderem Pornographie, oder eine schutzbedürftige Person einer minderjährigen gleichgestellt, eine detaillierte Differenzierung – wie im weltlichen Recht – gibt es jedoch nicht. Auch wurden Strafmaßnahmen auf kirchliche Angestellte und Mitglieder von Instituten des Geweihten Lebens oder einer Gesellschaft des Apostolischen Lebens Ordensmitglieder ausgeweitet. Für die Aufarbeitung – insbesondere durch unabhängige Einrichtungen – und die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen bräuchte es konkrete, in einem Land einheitliche Vorgaben.
Frage: Abseits vom Strafrecht: Wo sehen Sie noch Reformbedarf im Kirchenrecht?
Rees: Es gibt noch andere Bereiche, die eine ähnliche Überarbeitung wie das Strafrecht nötig hätten: das kirchliche Vermögensrecht sowie das Prozessrecht. Hier könnte der kirchliche Gesetzgeber manches von weltlichen Gesetzgebern lernen. Auch wäre ein Familienrecht gefordert. Der eigentliche, große Reformbedarf liegt durch die aktuellen Entwicklungen auf der Hand: Es braucht mehr Mitverantwortung der Laien und eine adäquate Stellung der Frauen. Die Tauf- und Firmgnade sowie der Glaubenssinn der Gläubigen müssten viel ernster genommen werden und in kirchliches Recht umgesetzt werden. Die Frage von Amt, Weihe, Leitung müsste geklärt werden. Neben einer geforderten größeren Mitverantwortung und Mitentscheidung, wie unter anderem bei Bischofsbestellungen, und der Stärkung und dem Ausbau von Synodalität halte ich auch eine Dezentralisierung in der Weltkirche für unabdingbar: In einer weltumspannenden Kirche gibt es ganz verschiedene Herangehensweisen und Erfordernisse, die im jeweiligen Kontext gelöst und legitim sein können, wie etwa die Frage der Laienpredigt. Hier ist kirchliches Recht noch nicht flexibel genug. Die Kirche könnte viel gewinnen, wenn sie aus ihrer frühen Tradition und der Anfangszeit schöpft: Damals war die Kirche eine geschwisterliche Kirche. Dies wäre heute wieder sehr zeitgemäß. Anliegen muss doch sein, eine Kirche zu gestalten, die ihre Gläubigen ernst nimmt und ihnen Heimat gibt. Sie muss eine zuhörende und lernende sowie dezentralisierte Kirche sein. Dies alles kann nicht im Alleingang und ohne Mitwirkung der kirchlichen Verantwortungsträger geschehen, sondern nur in großer Offenheit und grundsätzlicher Übereinstimmung, ohne Spaltung oder Abspaltung. Bischöfe und Bischofskonferenzen müssten den bereits vorhandenen Rahmen wohl stärker ausnützen.