Kommt der CDU vor lauter Konservatismus das Christliche abhanden?
Die religionspolitischen Leistungen der CDU sind unbestritten und für die Bundesrepublik Deutschland von überragender Bedeutung. Sie versammelte, Konfessionsgrenzen überwindend, auch Christinnen und Christen unter dem Dach einer "Union", um nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine demokratische und freiheitliche Republik politisch zu gestalten. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil, um bei ihr zu bleiben, die römisch-katholische Kirche zur Zeit der Gründungsphase der Bundesrepublik die Grundprinzipien der liberalen Demokratie und des säkularen Staates noch keineswegs anerkannt hatte; sie stand nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. So gesehen besteht das Verdienst der CDU auch darin, das Demokratie- und Freiheitsbewusstsein von Katholikinnen und Katholiken gebildet und gekräftigt zu haben. Es darf hierbei nicht vergessen werden, dass sich die CDU zur Zeit Adenauers entschlossen für die Westbindung Deutschlands eingesetzt hatte und damit zugleich die Hinwendung des politischen Katholizismus zum "normativen Projekt des Westens" (Heinrich August Winkler) nachhaltig beförderte. Die CDU bahnte, so gesehen, eine eigene Traditionsspur, in der sich Aufklärung und Katholizismus näherkamen.
Natürlich konnte die CDU Christinnen und Christen auch deshalb ein attraktives Identitätsangebot unterbreiten, weil diese Partei auch dem Konservativismus eine politische Heimat bot. Wichtig ist freilich, dass es ihr, eine ideenpolitisch erstaunliche Leistung, weithin gelang, diese von ihren Ursprüngen her tendenziell antimoderne Weltanschauung mit liberalen und sozialen Überzeugungen zu versöhnen. Dies geschah in der Weise, dass sich die CDU ihrem Selbstverständnis nach eben nicht als eine konservative, sondern als eine christliche Partei verstanden hat. Ja, das maßgeblich leitende Integral, das diese Partei programmatisch ausmachte, war ausdrücklich nicht das Konservative, sondern das Christliche. In gewisser Weise war es sogar so, dass das "C" der Partei dazu verhalf, den Konservativismus ideologiekritisch zu domestizieren und einzubinden. Die CDU legte stets Wert darauf, dass ihre Wurzeln gleichermaßen christlich-sozial, liberal und konservativ sind. Sie sah von ihren Anfängen her ihren Auftrag darin, diese drei Strömungen in ihrem programmatischen Ideenhaushalt miteinander zu verbinden und zwar mit dem hohen C als der einigenden Klammer.
Christliches wird auf eine Gesinnungsethik zurückgedrängt
Noch deutlicher, als dies in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten bereits zu beobachten war, dokumentiert der nun vorliegende Entwurf für ein "Grundsatzprogramm 2024", dass diese weltbildübergreifende Grundstruktur ihren Preis hat! Für das Christliche besteht er darin, dass es primär dem Wertebegriff unterstellt und gesinnungsethisch auf die Rede vom "christlichen Menschenbild" enggeführt wird. Wer den Programmtext aus christlicher Warte liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Christliche auf eine Gesinnungsethik zurückgedrängt wird. Christliche Semantiken tauchen so gut wie gar nicht auf, wo es um die verantwortungsethische Gestaltung in den konkreten Feldern der Politik geht. Der Text liest sich vielmehr so, dass christliche Gesinnungs- und politische Verantwortungsethik unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Basis und Überbau sind aber eigentlich keine Kategorien, die aus dem Theoriehaushalt dieser Partei stammen!
Die Berufung aufs Christliche führt zugleich eine gewisse Unbestimmtheit mit sich, weil es mehr oder weniger mit dem Begriff der personalen Würde gleichgesetzt und dabei auf die Prinzipien von Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohl abgehoben wird. Ungeachtet ihrer ideengeschichtlichen Herkunft unter anderem auch aus christlichem Erbe wird man jedoch festhalten müssen, dass in der Moderne sowohl der Menschenwürdebegriff als auch die mit ihm verbundenen politischen Gestaltungsprinzipien längst in eine profane Moral- und Rechtsordnung hinein übersetzt wurden, sodass sie ihren gesellschaftlichen und rechtsstaatlichen Geltungssinn nunmehr als Säkularisate entfalten. Ließe man im Text das adjektivisch vorangestellte "christlich" weg, das den besagten Begriffen beigesellt wird, sie wären, genau besehen, ihrer Geltungskraft nicht beraubt. Der gesamte Passus über die Selbstcharakterisierung der CDU als "christlich-sozial" verlöre nicht an Substanz, ließe man die Herleitung aus dem Christlichen weg. Die Passage liest sich wie die Klärung von Erbschaftsverhältnissen.
Aber es ist natürlich grundsätzlich die Frage, ob der Begriffshaushalt, mit dem die CDU das Christliche einhegen will, überhaupt eine angemessene Wiedergabe des christlichen Glaubens ist. Es sollte klar sein, dass der Wertebegriff ungeeignet ist, den normativen Kern des christlichen Glaubens, der das Evangelium Jesu Christi bezeugt, in dem es den Anbruch des Reiches Gottes verkündet, adäquat zum Ausdruck zu bringen. Der Wertebegriff ist demgegenüber eine säkularisierende Reduktionsfigur, die sich vom religiös-frommen Selbstverständnis des Christentums weit entfernt hat.
Nicht das C ist das Integral
Dass der Programmentwurf diesen Akzent setzt und das Christentum im Grunde gar nicht von seiner prophetisch-messianischer Kraft her politisch begreifen will, der ein herrschafts- und machtkritisches Potential innewohnt, dürfte vor allem damit zu tun haben, dass die CDU eine Debatte hat liegenlassen, die Walter Dirks (1901-1991), seines Zeichens katholischer Publizist und einer der führenden Intellektuellen der Bonner Republik, in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit der Frage initiiert hatte, ob Christentum und Konservativismus eigentlich zusammenpassen und miteinander in Einklang zu bringen sind. Der jetzt vorliegende Programmentwurf belegt das Ausbleiben einer klaren Antwort auf diese Frage sehr eindringlich. Die Metapher von den drei "Wurzeln" der Partei – christlich-sozial, liberal und konservativ – taucht natürlich auch im jetzigen Programmentwurf auf. Aber es ist nicht zu sehen, dass er eine Lösung bietet, wie diese drei Strömungen kohärent aufeinander bezogen und wie sie einander zugeordnet werden; der Argumentationsduktus ist an dieser Stelle lediglich additiv angelegt.
Es legt sich die Lesart nahe, dass, gegenläufig zur eingeübten Rhetorik, mit der das hohe C angestimmt wird, nicht das Christliche das Integral des Gesamtprogramms ist, sondern stattdessen das Konservative. Sehr eindeutig markieren die Passagen zur Leitkultur seinen Identitätsmarker – sie standen ja auch vernehmlich im Mittelpunkt der öffentlichen Erstpräsentation des Programmentwurfs. Allein: Die dort vorherrschenden Semantiken des Kulturellen passen in ihrer konservativen Klangfärbung doch wohl kaum zum grenz- und kulturüberschreitenden Universalismus des Christentums. Anders als die osteuropäischen Orthodoxien sind die westlichen Konfessionen nun einmal keine nationalkulturellen Religionen und stehen nicht zu Verfügung, um sich für leitkulturell normierte Weltbilder vereinnahmen zu lassen. Darum ist es auch ein zwiespältiges Angebot, das der Programmentwurf den Kirchen unterbreitet, wenn sie als "Partner bei der Gestaltung unseres Gemeinwesens" willkommen geheißen werden, und zwar als "gesellschaftspolitische Stabilitätsanker". Diese Redeweise kann nun doch ihre zivilreligiös vereinnahmenden Avancen schwerlich verbergen.
„Die Metapher von den drei 'Wurzeln' der Partei [...] taucht natürlich auch im jetzigen Programmentwurf auf. Aber es ist nicht zu sehen, dass er eine Lösung bietet, wie diese drei Strömungen kohärent aufeinander bezogen und wie sie einander zugeordnet werden.“
Das eigentlich Beunruhigende an dem Ungleichgewicht zwischen dem Christlichen und dem Konservativen im Programmentwurf besteht meines Erachtens darin, dass es ihm an einer zentralen Stelle deutlich an Problembewusstsein mangelt. Er reagiert nicht auf die Tatsache, dass sich der Konservativismus in den zurückliegenden rund 20 Jahren weltweit radikalisiert und ideologisiert hat; der Zustand der Republikanischen Partei in den USA und die Entwicklung, die konservative Parteien in Polen, Ungarn und andernorts genommen haben, seien pars pro toto genannt. Es handelt sich hier inzwischen um toxisch hochideologische Parteien, die den Verlust ihrer eigenen Mitte energisch vorangetrieben und jenes lebensbekömmlich und staatstragend Maßvolle verloren haben, das den Konservativismus einst ausmachte und das auch von denen anerkannt und geschätzt wird, die ihm von Hause aus fernstehen. Aus theologisch-politischer Sicht ist es wiederum äußerst beunruhigend, dass es im Feld des Christlichen Denominationen und Gruppierungen gibt, für die ein sich radikalisierender Konservativismus durchaus attraktiv ist, der das Kulturkämpferische sucht. Auch hierzulande stiftet der antiliberale und demokratiefeindliche Rechtspopulismus ein Identitätsangebot für konservativ-christliche Milieus. Das Verhältnis von Christentum und Konservativismus verlangt, mit anderen Worten, nach einer Neubestimmung.
Meines Erachtens versäumt es der Programmentwurf jedoch, den es leitenden Begriff des Konservatismus differenzierungsbereit zu klären. Denn es sollte klar sein, dass es derzeit vor allem diese politische Strömung ist, von der dort, wo sie ideologisch entgleist und sich radikalisiert, für die liberale Demokratie eine ernsthafte Gefahr ausgeht. Von welcher parteiprogrammatischen Grundoption her aber will die CDU ihren Konservativismus heute bändigen und normativ einhegen? Darauf gibt der Programmentwurf leider keine zufriedenstellende Antwort. Gelingt der CDU diese Selbstaufklärung nicht, wird sie alsbald mit der Frage konfrontiert sein, ob sie Christen noch eine politische Heimat bieten kann. Es stünde nicht gut um die CDU, wenn nicht nur Konservative das "C" in Frage stellten, wie es ja bereits geschieht, sondern auch Christinnen und Christen.